
UWE RADAS: 1988
1988 wird in Westberlin noch der Revolutionäre 1. Mai zelebriert, das aber, was jenseits der Stadtgrenzen im Osten liegt, ist für die meisten Möchtegern-Revolutionäre und Pseudo-Internationalisten terra incognita, ein weißer Fleck auf der Landkarte: hic sunt leones. Dabei ist Berlin damals, ein Jahr vor der Wende, Kulturhauptstadt Europas, und im Kongresscentrum an der Spree, das damals noch nicht Haus der Kulturen der Welt hieß, träumen Schriftsteller aus Ost und West den Traum von Europa.
Manchmal kommt es wohl auch Jan so vor, als träume er, an den heißen Abenden im Sommer, bei seinen ersten Begegnungen mit Wiola, der ungreifbaren, schönen, eigensinnigen Wiola aus Krakau. Dreißig Jahre später, als Jan sich erinnert – inzwischen nicht mehr verkrachter Student, sondern Mann mit Frau und Haus am Berliner Stadtrand –, da ist er sich nicht mehr so sicher, ob dieser Traum damals nicht ein Albtraum war. Wiola hat ihm aus dem fernen Krakau, aus der Ferne der Erinnerung, einen Brief geschrieben: Jan, erinnern Sie sich? Natürlich erinnert er sich. Das ganze Buch ist eine Erinnerung. An Westberlin, das es nicht mehr gibt, an die Grenze, die es nicht mehr gibt, an eine Liebe, die es nicht mehr gibt, und an all die Fremdheit zwischen Polen und Deutschland, die es vielleicht immer noch gibt. Jedenfalls aber ist seither alles anders geworden, zwischen Berlin und dem Rest der Welt, zwischen Polen und Deutschland. Und zwischen Jan und Wiola? Das wird sich zeigen, bis zum überraschenden Ende.
„Uwe Rada versteht es, vergessene Geschichte wieder zum Leben zu erwecken”, hieß es im Deutschlandradio Kultur vor einiger Zeit über den Autor, der bekannt wurde durch seine wundersamen Bücher über große Flüsse. Jetzt also der Roman 1988, und wieder erzählt Rada Geschichte, die fast vergessene Geschichte einer Liebe und gleichzeitig die Geschichte einer schwierigen Annäherung zwischen dem Deutschen an Polen.
„Eine platonische Liebe ist und bleibt eine Liebe”, meint der Ich-Erzähler an einer Stelle seiner Reise zwischen Berlin und Krakau, zwischen damals und heute, die ihn zu einer neuen Begegnung mit Wiola führen soll, nach all den Jahren. Und mittlerweile weiß er auch: Selbst in dieser Liebesgeschichte wurde Geschichte verhandelt. Jan, der Revolutionsromantiker seiner jungen Jahre, wurde von Wiola die ganze Zeit mit Stoff eines für sie noch sehr präsenten, echten Romantikers versorgt, dem polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz. Die Gedichte Mickiewiczs sind die ganze Zeit mit dabei, bei diesem roadmovie zwischen Kreuzberg und Krakau, das zweimal abläuft: einmal 1988 und einmal heute. Der Vergleich, sehr gut erzählt, spricht buchstäblich Bände. sg
256 Seiten

Markus Orths: Max
24,00€

Matthias Zschokke: Ein Sommer mit Proust
Wallstein Verlag
Matthias Zschokke opfert einen ganzen Sommer, um sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben? Er verlangt es von sich, da dies einer der großen Romane der Weltliteratur sei, die man gelesen haben muss, wie Joyce's „Ulysses“ oder Musils „Mann ohne Eigenschaften“? Nur damit er nicht bis zum Grab denken muss, er hätte sich vor einem wirklich Großen gedrückt? Das klingt beunruhigend, wenn man weiß, daß Zschokke in seinem Roman „Die strengen Frauen von Rosa Salva“ (2014) mit Sottisen gegen Proust nicht eben gespart hat: „Ich ertrage ihn nicht...Das ist Prosa für solche, die siegen lernen wollen. Eine Bibel für angehende Führungskräfte.“
Das Experiment beginnt dann auch unter dunklen Vorzeichen. In der Werkausgabe der edition suhrkamp findet er auf den ersten 250 Seiten mindestens 20 Druckfehler. Nach den ersten beiden Bänden fürchtet er, nicht durchhalten zu können: „Das ist mir alles viel zu mastig... Was immer ihm begegnet oder geschieht, ist ihm Anlass, sich in eine Pose zu werfen und sich in dieser Pose andächtig bewundernd abzupinseln. Er ist abgöttisch vernarrt in seine eigene Empfindsamkeit...“ Zum Glück hat Zschokke Freunde an seiner Seite, eine Übersetzerin und einen Proust-Spezialisten (unschwer als Luzius Keller erkennbar), denen er per Brief/Mail seine Irritationen mitteilt. Und die ihm undifferenzierte Schroffheiten („Proust-Würgereiz“, „Speichelleckerische Verehrung der upper class“) nicht nur nicht übelnehmen, sondern geduldig wertvolle Hinweise zum Kontext und zur Übersetzung liefern.
Es bleibt eine Achterbahnfahrt der Lektüre-Gefühle, von euphorischem Lob („Zum Umarmen!“) bis zur letzten Wertung („Als Ganzes ein entsetzliches Buch.“) – Zschokke wird, man ahnte es, nicht froh mit Proust. Dass man diesen schmalen Band dennoch mit großem Vergnügen liest, liegt an der ungemein sympathischen und entwaffnenden Art, wie Zschokke seine launischen und, natürlich, oft ungerechten Einwände formuliert. Bedenkenswert sind sie allemal, für Proust-Einsteiger wie für Proust-Spezialisten. gw
62 Seiten
12,90 €

Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht
Diogenes Verlag
Eine verwitwete Frau, um die 70 Jahre, fasst sich ein Herz und fragt einen einen etwa gleichaltrigen Mann aus der Nachbarschaft, ob sie die Nacht bei ihm verbringen könne – ohne anzügliche Absichten, nur um die Einsamkeit abzumildern. Verdutzt, aber neugierug stimmt er zu und daraus entwickelt sich ein Verhältnis voller Liebenswürdigkeit und Vertrauen. Dies alles spielt sich in einer (fiktiven) amerikanischen Kleinstadt ab, von einem hier nahezu unbekannten amerikanischen Autoren, Kent Haruf (1943-2014), gekonnt in Szene gesetzt. Natürlich empören sich die sogenannten rechtschaffenen Mitbürger und auch die Kinder der beiden beobachten das zunehmend enger werdende Verhältnis mit Argwohn, zumal sie sich im Laufe der Zeit gemeinsam um einen Enkel kümmern, der ihre Fürsorge dringend braucht, da er unter der Trennung seiner Eltern sehr leidet.
Dies alles ist leise und diskret erzählt, niemals kitschig und immer glaubwürdig, und wenn man das Buch nach seinem melancholischen Ende schließt, bleibt man als Leser mit einem seltenen Gefühl zurück, das das Buch durchzieht – menschliche Güte. kp
208 Seiten
20,00 €

Alexander Goldstein: Denk an Famagusta
Aus dem Russischen von Sabine Kühn
Matthes & Seitz
„Ich bin absolut kein Historiker, vielleicht bringe ich etwas durcheinander, in meinem löchrigen Kopf geht alles drunter und drüber, löffeln Sie den Brei der Chronologie doch selber aus.“
Sollte man sich als Leser diesem erklärtermaßen unzuverlässigen Erzähler für mehr als 500 Seiten anvertrauen? Man sollte es unbedingt, vorausgesetzt man verabschiedet sich konsequent von bisherigen Lesegewohnheiten und Erwartungshaltungen. Es gibt keine nacherzählbare Handlung in dieser Wunderkammer eines Romans; Zeitebenen und Orte wechseln und verschränken sich ständig, Goldsteins melodisch-mäandernde Sätze durchmessen mühelos auf wenigen Seiten ganze Jahrhunderte.
Die Stelle des Helden nimmt eine Stadt ein: Baku, aserbaidschanische Erdölmetropole am Kaspischen Meer, Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne. Im bunten Völkergemisch dieser Stadt lässt Goldstein ein raffiniertes Geflecht aus Erinnerungen, Alltagsszenen und erotischen Eskapaden erstehen, kaleidoskopartig, rhapsodisch, detailreich und voll des grimmigsten Humors. Der Untergang der „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ wird von deren östlichstem Rand her beobachtet, aber noch dieser Abgesang ist voller liebevoller Schilderungen des Alltagslebens. „Ich, der den Osten hasste, lebte mein Leben lang im Osten.“
Alexander Goldstein, 1957 in Talinn geboren, emigrierte 1990 wie viele Juden aus dem zerfallenden Sowjetimperium nach Israel, wo er 2004 starb. „Alles mitbringen, nichts vergessen“ – aus dieser simplen Poetologie formte er diesen ausufernden, überbordenden, faszinierenden Erzählstrom, der seinesgleichen nicht hat. gw
540 Seiten
30,00€

Nina Bußmann: Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen
Suhrkamp
Nelly, eine Seismologin, verschwindet in der Karibik. Beim Rundflug mit einer Propellermaschine, den sie mit einem Freund unternimmt, verschwindet das Flugzeug plötzlich vom Radar. Das Wetter war gut, die Maschine war vollgetankt, ein Absturz erscheint unwahrscheinlich. Als nach einigen Monaten Trümmerteile geborgen werden, scheint der Beweis gefunden zu sein. Doch von den beiden Passagieren fehlt jede Spur. Verfolgt wird die Suche nicht nur von Nellys Partner, der in der weiteren Handlung keine große mehr spielt, sondern vor allem auch von ihrer langjährigen Freundin, die namenlos bleibt und aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird. Als diese der verschwunden Nelly in die Karibik nachreist, begibt sie sich nicht nur auf die Suche nach Antworten bezüglich des Absturzes, sondern auch nach der Antwort auf die Frage, wer Nelly eigentlich war. Durch Erinnerungen, Gespräche mit Bekannten, gefundene Dokumente und Vermutungen versucht sie ein ‚objektives’ Bild von Nelly zu schaffen. Gefärbt ist diese vermeintliche Objektivität jedoch durch die Erinnerung der jeweiligen Personen auf die sie sich bezieht – Nellys Kollegen auf einem Forschungsschiff, ihre Mitbewohnerinnen in der Karibik, ihre Affären und Partner.
Der Roman ist atmosphärisch sehr stimmig. Ob Studentenwohnheime in Deutschland, Forschungsschiffe auf hoher See oder Wohngemeinschaften in der Karibik, ich befand mich gefühlt sofort an den Orten, die Nina Bußmann beschreibt. Die Freundschaft der beiden Frauen wird als eher unterkühlt, kalkuliert und von Missverständnissen geprägt beschrieben. Keine der beiden kann die andere ‚richtig’ wahrnehmen. Beide lebten in ihrer eigenen Blase, gefangen nicht nur an ihrem jeweiligen Ort, sondern auch in ihren Gedanken.
Die beiden Frauen zeigen außerdem Anzeichen mentaler Instabilität, sie sind beeinflusst von Depressionen, Ängsten, Antriebslosigkeit oder selbstzerstörerischem Verhalten. Vielleicht sind es genau diese Ängste die es den beiden unmöglich macht, auf die jeweils andere empathisch zu reagieren. Denn beide isolieren sich, können nicht aus ihren eigenen Zwängen ausbrechen. Die Reise der Freundin ist somit sowohl als ein Versuch der Flucht aus ihren realen und mentalen Zwängen, als auch als Schritt in die beklemmende Situation Nellys zu verstehen, in der sie sich kurz vor ihrem Tod, der im Buch auch als möglicher Freitod dargestellt wird, befand. Die Verschmelzung der beiden Frauen an Nellys letztem Ort führt gleichzeitig zu einer Art Auflösung der klar umrandeten Identität der Freundin. Als Nellys Freundin in die Karibik reist, zieht sie nicht nur in Nellys altes Zimmer, sie befreundet auch ihre Mitbewohner, besucht dieselben Orte, es ist fast so, als versuchte sie Nellys Leben zu leben. Immer tiefer dringt sie in Nellys Vergangenheit ein und konfrontiert sich mit ihren Emotionen. Sie imaginiert Ordnung und Klarheit im Ende Nellys, doch möglicherweise konstruiert sie damit nur ein gedankliches Gegenstück zu ihrem persönlichen Chaos. Janina Gallert
329 Seiten
22,00 €

Christoph: Hein Trutz. Roman
Suhrkamp
"Früher Morgen war's, als sie dich holten. / Die Kinder weinten vor Schreck. / Ich folgte Dir wie einem Toten. / Die Kerze zerfloss im Eck..." Anna Achmatowa
Im Prolog dieses Romans, in dem der Erzähler berichtet, wie er durch Zufall jenen Maykel Trutz traf, dessen Lebensbericht diesen Roman hat entstehen lassen, lesen wir folgenden Satz: "Ein gutes Gedächtnis war in der Geschichte der Menschheit stets eine tödliche Gefahr. Das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis."
Das Zeitalter der Extreme nannte Eric Hobsbawm das 20.Jahrhundert, in dem mitten in Europa das NS- und das Sowjet-Regime vierzehn Millionen Menschen ermordeten.
Eine schier unerträgliche Zahl. Empathie entsteht nicht für Zahlen, Empathie entsteht für Menschen, für nacherzählte, ganz individuelle Biographien, an denen beispielhaft das Ineinander und Verzahnen von Geschichte und Einzelschicksal begreifbar, nachvollziehbar, ein wenig nacherlebbar und im besten Falle auch verstehbar wird.
In diesem Sinne ist Christoph Hein ein grandioser Jahrhundertroman gelungen, der all das schafft, was Geschichtsbüchern oft nicht gelingt.
Erzählt wird die Geschichte zweier Familien: einer Deutschen, beginnend in der NS Zeit der frühen 30er Jahre in Berlin und später im sowjetischen Exil, und einer Russischen im Moskau der 30er und in der Verbannung.
Maykel Trutz' Vater, Rainer Trutz, ist Journalist und Autor in Berlin, schreibt zwei schmale Romane, und gerät damit prompt auf die schwarzen Listen der Nazis.
Nur knapp entgehen er und seine Frau der Verhaftung. Mit Hilfe einer russischen Freundin gelangt die Flucht ins Sowjetische Exil. Dort kommt Maykel 1934 in Moskau zur Welt. Die Eltern arbeiten schwer, mit den Händen. Man arrangiert sich.
Sie lernen einen Professor von der Lomonossow Universität und dessen Familie kennen.
Prof. Gejm ist Sprachwissenschaftler mit Schwerpunkt Gedächtnisforschung. Er hat einen kleinen Sohn, Rem, der Maykels bester Freund wird. Sie spielen zusammen und werden dabei von Gejm liebevoll und nachhaltig gefördert: Gejm trainiert ihr Erinnerungsvermögen, was für beide lebenswegbildend wird.
Am Ende der 30er Jahre geraten alle in den "Reißwolf" des Stalinschen Säuberungs- und Umsiedlungswahns. Sie werden deportiert, kommen um, bis auf die Kinder.
Maykel wird nach dem Krieg nach Deutschland, in die sowjetische Zone, die DDR ausgewiesen. Er studiert, will Historiker werden, gibt diesen Wunsch auf, wird Archivar, ein lebendiges Gedächtnis. Auch hier herrschen wieder Staatswillkür, auch hier gerät er politisch unter Verdacht. Jahrzehnte später sehen Maykel und Rem sich wieder...
Christoph Hein ist mit diesem Buch ein großartiger Roman und eine Geschichtsstunde par excellence gelungen. In sachlich, nüchternem Ton erzählt, entwickelt dieser Text eine ungeheure dramatische Wucht und Spannung und lehrt uns nichts zu verschweigen, nichts zu vergessen, Archive anzulegen, und dafür zu arbeiten, dass sie zugänglich sind. sg
477 Seiten
25,00 €

Boris Sawinkow: Das schwarze Pferd
Kiepenheuer und Witsch
Boris Sawinkow war Anarchist, Terrorist, genialer Planer von Attentaten, er gehörte zu den russischen Sozialrevolutionären und war Schriftsteller. Seinen ersten Roman Das fahle Pferd (dt. 2015 bei Galiani) schrieb er l907/08 im Exil in Paris, wohin ihm nach einem misslungenen Attentat und Inhaftierung in der Festung Sewastopol zu fliehen gelungen war. Wichtigste Figur und Erzähler im Roman ist Georg, er bekennt sich zu Revolution und Terror, getötet werden muss nicht für persönliche Ziele, sondern weil man für ein neues Russland töten muss. Das 4. apokalyptische fahle Pferd mit seinem Reiter steht in der Offenbarung des Johannes für den Tod – möglicherweise ist Georg dieser Reiter.
Auch im 16 Jahre später, nach neuerlicher Emigration in Paris, geschriebenen Roman Das schwarze Pferd ist Georg Hauptperson und Erzähler. Der Titel bezieht sich auf das 3. apokalyptische Pferd, der Roman beginnt im Jahr 1917. Georg ist zunächst Oberst in der weißen Armee, dann kämpft er für die grünen Bauernsoldaten, dann als Großstadtrevolutionär in Moskau, immer gegen die Bolschewisten und ihren Herrschaftsanspruch und immer desillusionierter. In Tagesberichten und Reflexionen schreibt er vom Verhängnis eines Bürgerkriegs, in dem alle für Russland kämpfen und alle für Russland sterben. Was mit Terror im fahlen Pferd begann, wird für Georg zur Frage nach Wahrheit, wer hat Recht – alle? – warum töten wir und wird unsere Schuld durch den eigenen Tod aufgehoben?
Sawinkow erzählt hochkonzentriert, kühl und ruhig, immer wieder in einem eindringlichen Sprachrhythmus, der an biblische Weissagungen erinnert. Am Ende verlässt Georg Moskau. Noch einmal zitiert er aus der Offenbarung „Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der daraufsaß hatte eine Waage in seiner Hand.“ Bei Sawinkow erscheinen die Pferde in umgekehrter Reihenfolge, zuerst das 4. – der Tod – und dann das 3. – Krankheit und Not. Ein Bild der Hoffnung?
Das schwarze Pferd, entstanden aus Sawinkows eigenem Erleben, ist kein autobiographischer Roman, es ist wie Bulgakows Weiße Garde und Babels Reiterarmee eine eindrucksvolle, poetische Erzählung der russischen Revolutionszeit. rg
290 Seiten
23,00€

Jutta Voigt: Stierblut-Jahre. Die Boheme des Ostens
Aufbau Verlag
„Es war einmal ein Land..., in dem Filme, Opern und Tänze verboten wurden, weil sie ein paar alten Männern nicht gefielen. Ein Land, aus dem man nicht raus konnte ...“. Können Sie sich vorstellen, dass es in diesem Land ein Leben gab, das leicht war und bunt, verzweifelt und verspielt zugleich – das Leben der Boheme?“
Ja, das gab es tatsächlich in der DDR, eine lebendige Alternativ-Szene.
Die graue Düsternis notdürftig beleuchteter Straßen in heruntergekommenen Stadtquartieren und verfallende Gutshäuser in ländlichen Regionen boten Schutzräume für alternatives, selbstbestimmtes Leben und Schaffen in allen Sparten der Künste.
Nicht nur in der „Hauptstadt“, auch in Leipzig, Halle, Dresden, und in der DDR- Provinz.
Überlebenswichtig war ein Dauerarbeitsverhältnis, sei es als Friedhofsgärtner oder Toilettenaufsicht, oder die Erlaubnis des Finanzamtes, freiberuflich tätig zu sein. Andernfalls drohte die Staatsmacht mit dem Strafrecht: „asoziale Lebensweise“ wurde mit Knast zur „Arbeitserziehung“ bedacht, Minderjährige in den berüchtigten Jugendwerkhöfen drangsaliert.
Die Autorin Jutta Voigt, Ostberlinerin Jahrgang 1941, war seit ihrer Studentenzeit und später als Journalistin mittendrin dabei, beobachtete die Etablierten und die Westbesucher im Künstlerclub Die Möve, die hoffnungsvollen Jungtalente und die Möchtegern-Künstler, die Abgestürzten und die einfallsreichen Kreativen, die der repressiven Staatsmacht so manches Schnippchen schlugen.
Zu Lesungen und Gesprächen traf man sich in privaten Wohnungen und kleinen privaten Galerien. Gefeiert wurde oft und ausgelassen, der ungarische Rotwein Stierblut, das Kultgetränk der Alternativen, floss reichlich.
Anfangs, in den Gründerjahren der DDR, dominierte die Hoffnung auf eine gerechte und freie Gesellschaft, die anders sein sollte, als im kapitalistischen Westen.
Diese Hoffnungen der Intellektuellen und Künstler der DDR zerstoben spätestens 1976 mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns. Die Staatsmacht wollte Unterwerfung erzwingen.
Bespitzelung, Zersetzung der Szene durch Misstrauen, Belohnung bei Wohlverhalten, erzwungene Ausreise für die Widerständigen waren die perfiden Methoden.
Hierbleiben oder weggehen, war die meist gestellte Frage in der Künstlerszene in den 1980er Jahren.
„Was verboten ist, das macht uns gerade scharf.“ Dieses Biermann-Wort erklärt vielleicht, warum gerade im Gouvernanten-Staat DDR subversives Leben gedeihen musste. Jutta Voigt bietet - brilliant und unterhaltsam geschrieben - Einblicke in ein eher verborgenes Segment der DDR-Wirklichkeit. js
272 Seiten
19,95 €

Stephan Lohse: Ein fauler Gott
Suhrkamp Verlag
Westdeutschland, Anfang der 70er Jahre: Der elfjährige Benjamin wächst mit seinem jüngeren Bruder Jonas bei ihrer Mutter auf; die Eltern sind geschieden. Ben beschäftigen die typischen Alltagsangelegenheiten eines Jungen zwischen Kindheit und Frühpubertät: Schule, Autos, Karl May, die Hitparade. Doch dann stirbt Jonas und Ben muss sich an Veränderungen gewöhnen - seine Mutter weint nachts auf ihrer Heizdecke, und er tut sein Möglichstes, sie abzulenken. Aber auch sein Jungenleben geht weiter und nimmt Ben stark in Anspruch; er freundet sich mit seinem neuen Mitschüler an, lernt beim Nachbarn "Autofahren" und erhält seine erste Einladung zu einer Party mit Mädchen.
Bens jugendlich-naive Erzählerstimme, die nur gelegentlich von Schlaglichtern auf seine Mutter unterbrochen wird, nimmt den Leser vom ersten Augenblick an gefangen. Stephan Lohse erzählt mit großer Empathie und Zuneigung für seine Figuren und trotz der ernsten Thematik kommt der Roman nahezu leichtfüßig daher, besticht er doch nicht zuletzt durch seine anrührende Komik.
Das Buch handelt von Tod, Trauer und Schmerz, von Freundschaft, Trost und Liebe - kurz gesagt: vom Leben. Und wie auch sein (Schauspiel- und Autoren-)Kollege Joachim Meyerhoff besitzt Stephan Lohse die Fähigkeit, in einer eigenen Sprache, eigenen Bildern und aus einem ganz eigenen Blickwinkel heraus zu erzählen.
Es ist das gelungene Debüt eines Autors, den man im Auge behalten sollte. mf
336 Seiten
22,00€
Frühling 2017

Katja Lange-Müller: Drehtür
Asta Arnold war 22 Jahre als Krankenschwester im Dienst internationaler Hilfsorganisationen tätig, zuletzt in Nicaragua. Ein Leben lang sah sich berufen zu helfen, doch jetzt, mit 65, unterlaufen ihr Fehler, und sie ist nicht mehr erwünscht. Die Kollegen schenken ihr ein One-Way-Ticket nach Deutschland, für einen „Aus-Flug“, wie sie es mit perfidem Witz nennen. Nun steht Asta am Münchner Flughafen und raucht ohne Maß. Orientierungslos, was die Zukunft angeht, wird sie ergriffen von einem intensiven Erinnerungsstrom, ausgelöst durch vermeintlich bekannte Gesichter dies- und jenseits der Drehtür, die gleichsam als Scharnier ihrer Lebensstationen dient. Und wie Scheherazade erzählt, um ihr Leben zu retten, beginnt nun ein Rondo frei assoziierter Erinnerungen aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen Kontinenten, bei denen es um das Helfen geht und nicht selten um dessen Misslingen.
Anfangs aber bemerkt Asta, dass sie mit der deutschen Sprache „im Clinch“ steht, und so muss sie erst probieren, den inzwischen fremd klingenden deutschen Wörtern nachschmecken, ob sie eine Vertrautheit etwa in solchen wie Blitzgewitter und Muttersprache finden kann. Was ein Lebewesen ist, wissen alle. Aber ein Gesundheitswesen? „Helfen macht geil, machtgeil“, heißt es später. Und da ist er endlich wieder, der ganz besondere Katja-Lange-Müller-Sound, den wir vermisst haben sieben Jahre lang, seit dem großartigen Roman „Böse Schafe.“ Lakonisch, robust, sarkastisch, pointiert, unsentimental, solidarisch-zärtlich noch mit dem verwahrlosesten Freak. Doch noch hinter dem verschrobensten Kalauer verbirgt sich eine stille Weltweisheit, die sich, so will es scheinen, zunehmend in Weltskepsis wandelt.
„Ich habe viel über das Helfen nachgedacht als letzte Domäne des unreflektiert Guten“, so Katja Lange-Müller. „Gut ist ja nicht einfach gut. Das hatte ich schon bei meinem Roman „Böse Schafe“: die guten Guten, die bösen Bösen, die bösen Guten und die guten Bösen. Die guten Bösen sind wahrscheinlich die Variante, die die Menschheit am weitesten bringt...“ gw
224 Seiten
19,00€
Winter 2016

Francoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten
Übersetzt von Elisabeth Edl, mit einem Vorwort von Patrick Modiano.
Hanser Verlag
Sie war eine Kollegin, diese Francoise Frenkel, eine ganz besonders mutige, intelligente und selbstbestimmte Person. Man müsste ihr so etwas wie ein kleines Buchhändlerinnendenkmal
setzen. 1889 kommt sie in Polen zur Welt, sie ist Jüdin, geht zum Studium nach Paris und kommt im Jahr 1921, drei Jahre nach dem großen Krieg, auf die unglaubliche Idee, in Berlin, Passauer Straße, eine französische Buchhandlung zu eröffnen. Man rät ihr ab, sie tut es dennoch. Es wird eine Erfolgsgeschichte. Tout Berlin trifft sich hier: Diplomaten, französische und deutsche Autoren, Intellektuelle, Leser, die das Französische lieben, wovon es immer schon in Berlin viele gab. Kurzum: Dieser Buchladen wird eine lebendige Berliner Institution, ein Ort des kulturellen Lebens und Austausches in einer schwierigen Zeit. Ab 1933 machen die deutschen Behörden diesem Laden und ihrer Besitzerin das Leben und Handeln mit französischen Büchern kompliziert und schwer. Madame Frenkel bleibt dennoch bis kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in der Stadt. Am 27. August 1939 verlässt sie Berlin. Sie schließt ihren geliebten Buchladen zu und geht. Für immer. Die französische Botschaft versucht die Bücher zu retten, aber irgendwann beschlagnahmen die Nazis alles. Man kennt diese Geschichten, und doch müssen sie immer wieder erzählt werden.
Zurück in Frankreich gelingt es ihr, sich mit Hilfe guter Menschen zu verstecken. Davon berichtet das Buch im überwiegenden Teil. Schließlich gelingt ihr die Flucht in die Schweiz. Francoise Frenkel überlebt den Krieg. Unmittelbar nach all diesem Erlebten, setzt sie sich hin und schreibt dieses Buch. Es erscheint 1945 in einem Schweizer Verlag und - ward vergessen. Eindrücklich, präzise, frisch und ohne Bitternis erzählt sie von all den kleinen Schritten, die notwendig waren, um untergetaucht im besetzten Frankreich zu überleben. Ohne fremde Hilfe unmöglich – ohne ständige Überwindung von extremster Angst und ohne Glück auch nicht. Beeindruckend und lehrreich ihre genaue Beschreibung von deutscher Besatzungsverwaltung und französischem Entgegenkommen, wenn es darum geht, politisch und rassisch Verfolgte auszuliefern. Aber eben noch beeindruckender die vielen Menschen, die sich dem zu widersetzen versuchen und es auch tun.
Man fand dieses Buch, auch das ein Wunder, auf einem Pariser Flohmarkt wieder.
Elisabeth Edl übersetzte es und Patrick Modiano, ein Spezialist derartiger Lebensgeschichten, hat ein einfühlsames Vorwort geschrieben, und Sie sollten es unbedingt lesen. Es ist etwas Besonderes mit diesem Buch. Eigenartig, dass man nie zuvor, auch wenn man schon fast ein ganzes Leben im Bücher-Berlin lebt, von der Existenz dieses Buchladens gehört hat. sg
288 Seiten
22,00€
Winter 2016

Hans Fallada: Kleiner Mann - was nun?
Mit einem Nachwort von Carsten Gansel
Aufbau Verlag
Die meisten von Ihnen werden dieses Buch schon einmal gelesen haben. Wenn nicht, nehmen Sie es sofort zur Hand und fangen Sie an. Wenn ja, lesen Sie es noch einmal.
Es sei hier zum Wiederlesen ausdrücklich empfohlen, zumal ein Viertel dieses Textes in früheren Ausgaben nicht enthalten war - ergo: alle lesen irgendwie zum ersten Mal dieses Buch.
Seit geraumer Zeit machen sich Verlage etwas zur Aufgabe, was nicht oft genug lobend erwähnt werden kann: Sie entdecken längst vergessene, verschollene, gekürzte Bücher neu und geben Sie erstmals in ihrer ganzen ursprünglichen Vollständigkeit heraus. Im Aufbau Verlag ist ein solches Arbeiten mit und an Texten berühmter Autoren schon lange ein fester Bestandteil der Programmgestaltung und wir sind dankbar, dass es solch ein Denken und Arbeiten in Verlagen gibt. So geschehen im Frühjahr 2011 mit Hans Falladas JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN und nun mit des selbigen Autors Titel KLEINER MANN - WAS NUN? Im Jahre 1932 waren Ernst Rowohlt, der Verleger Falladas, der Autor selbst und das Lektorat nur an einem interessiert: Sie wollten das Buch zu einem Welterfolg machen, und deshalb "erschien es angeraten, mögliche Irritationen zu vermeiden und den Roman auf diese Weise einem breiten Lesepublikum anzupassen." Die Weltwirtschaftskrise hatte allen, Autor und Verlag, zugesetzt. Man brauchte dringend einen Erfolg; auch einen wirtschaftlichen: Man brauchte die "Pinke". Und so wurden in einer politisch extrem angespannten Situation politisch heikle Szenen, aber auch solche, die den Leser moralisch kompromittieren könnten, Szenen des Berliner Nachtlebens, gestrichen. Etwa ein Viertel des Romans fiel dem Rotstift zum Opfer. "Das Kalkül von Verlag, Autor und Zeitung (Es gab einen Vorabdruck in der Vossischen) ging auf: Die Leser waren begeistert. Es wurde ein Welterfolg. Und erst jetzt dürfen wir den ganzen Fallada lesen und sind erstaunt, berührt und beglückt, diese Geschichte in all ihrer Frische und Eindringlichkeit, ihrer Wärme, Bitternis, Wahrheit und Lebendigkeit erneut zu lesen und zu hören. Dieser Roman hat über die Jahre nichts an Aussagekraft, Wahrhaftigkeit und literarischer Kraft verloren. Das zeichnet große Literatur aus. Man wird ihn auch in hundert Jahren noch genauso frisch und begeistert lesen können. Wer das Ende der Weimarer Republik verstehen will, greife zu diesem Buch.
"Da steht Er, einer von Millionen, Johannes Pinneberg, kleiner Angestellter, ein Garnichts, aber ein Garnichts voll Sorgen und Wünschen, Mann seines "Lämmchen", Vater seines "Murkels", kämpft mit Berlin, Verwandten, Hochstaplern, Chefs, Kollegen, verkauft viel Anzüge, verkauft gar keine Anzüge, wird arbeitslos, bekommt Arbeit, wird wieder arbeitslos und verzweifelt doch nicht... Wehrlos gegen die Schläge, die auf ihn niederfallen, arm im blinkenden Wirbel der Großstadt, glückselig bei Weib und Kind, erfährt Pinneberg Freud und Leid wie der nackte Mensch der Urzeit, der nicht weiß, was morgen kommt." So formuliert in einer Anzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel am 25. Mai 1932.
"Schreiben Sie, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist" ermunterte Ernst Rowohlt seinen Autor. "Also nieder mit allen verdammten Buchgemeinschaften und Volksverbänden der Bücherfreunde, sämtlichen Illustrierten Zeitungen der Welt, sämtlichen jämmerlichen bürgerlichen Feuilletonredaktionen, sondern schreiben Sie um Gottes Willen so, wie es Ihnen um die Hand, resp. ums Maul oder ums Herz herum ist, ..." Das tat Fallada, gekürzt wurde danach. Der Sound dieses Buches ist unverwechselbar. Man muss es einfach lieben. Das Buch hat, dies soll nicht unerwähnt bleiben, einen hervorragenden, informativen Anhang von Carsten Gansel. sg
557 Seiten
22,95€
Winter 2016

Szczepan Twardoch: Drach
übersetzt von Olaf Kühl
Rowohlt Berlin
Drach ist ein Familienroman, es ist ein Roman Niederschlesiens und die Erde ist es, die die Geschichte der Familie Magnor erzählt. Sie weiß alles, bewahrt alles, vergisst nichts. Die Erde als Erzählerin ermöglicht eine Gleichzeitigkeit der Handlung über 100 Jahre hinweg, ein Erzählen, in dem alle Stränge in einem Geflecht miteinander verbunden sind. Trotz der zeitlichen Sprünge und der zahlreichen handelnden Personen und Nebenpersonen verliert der Leser in diesem kunstvoll komponierten Roman nicht den Zusammenhang. Wie ein Faden, der durch die Erde läuft, werden die Personen und Zeitebenen miteinander verwoben, vom Urgroßvater Josef Magnor bis zum Urenkel Nikodem. Josef Magnor ist der Stamm, von dem die vielen Erzählstränge abzweigen. In dieser Zeitspanne von 100 Jahren wird nicht nur die Familiengeschichte erzählt, sondern auch die Geschichte Schlesiens, der Kriege, Aufstände und Streiks in den Bergwerken, der Grenz- und Sprachverschiebungen, der Menschen, die heute wasserpolnisch oder schlesisch sprechen und fühlen und morgen deutsch oder polnisch. Wer bin ich, wo gehöre ich hin, wie bestimmt mich meine Herkunft, Fragen, die man sich selbst beim Lesen des Romans stellt. Olaf Kühl hat diesen Text mit all seinen sprachlichen Herausforderungen wunderbar übersetzt, ein "Lied von der (schlesischen) Erde", ein großartiges Buch. rg
412 Seiten
22,95€
Winter 2016

Thomas Melle: Die Welt im Rücken
Dies ist ein nachtschwarzes Buch voller Qual und Verzweiflung, Scham und Wut, eine Reise ins Herz der Finsternis. Und es ist eins der besten Bücher in dieser an guten Büchern nicht armen Saison. Nicht Roman, nicht Autobiographie, nicht (ausschließlich) Krankenbericht. Es ist ein Freischreiben.
Thomas Melle leidet seit 1999 an der Bipolaren Störung I, der schwersten Form manischer Depression. Das heißt (sehr verkürzt): In Schüben wechseln sich paranoide Allmachtsphantasien und tiefe Niedergeschlagenheit ab, die Klinikaufenthalte häufen sich, die Freunde bleiben fern, Räumungsklagen und Pfändungen folgen. Wie das im Einzelnen beschrieben wird, das ist schlicht atemberaubend, voll schonungsloser Drastik und vor allem von ungeheurer literarischer Kraft.
Zwischen den Schüben ist man sozusagen „zwischenzeitlich geheilt“; in diesen Phasen schrieb Melle zuletzt die beiden Romane „Sickster“ und „3000 Euro“.
Freischreiben: Schon in den Romanen teilen die Protagonisten das Basisschicksal des Autors, sind dessen „Wiedergänger“, von denen es sich zu trennen gilt. Das ist der Antrieb des Buches und bezeugt seine Dringlichkeit. „‘Ich‘ zu sagen ist unter den gegebenen Umständen gar nicht einfach, umso entschiedener tue ich es. Wenn ich nicht wirklich versuche, meine Geschichten einzusammeln, sie zurückzuholen, die Stimme in eigener Sache unverstellt zu erheben, bleibe ich, auch und gerade im Leben, ein Zombie, ein Wiedergänger meiner selbst, genau wie meine Figuren.“
Nach der Lektüre ist man erschöpft wie nach harter, aber sinnerfüllter Arbeit. Wie soll es weitergehen?
„Bisher war ich ein Schriftsteller des Unglücks. Meine Protagonisten fielen, erkrankten, brachten sich um. Das soll sich nun ändern. Ich möchte herausfinden, wie es wäre, ein Schriftsteller des Glücks zu sein.“ gw
352 Seiten
19,95€
Herbst 2016

Guntram Vesper: Frohburg
1957 – der Autor war 16 Jahre alt - flüchtete die Familie in den Westen. Besuche, meist in „Familienangelegenheiten“, vor und nach dem Ende der DDR, führten ihn zurück in die Landschaften und Orte seiner Kindheit und lösten ein Erinnerungs-Feuerwerk an persönliche und politische Ereignisse sowie deren handelnde Personen aus. Das Buch ist lang, aber nie langatmig. Zurecht hat der Autor für sein Werk der Leipziger Buchpreis 2016 erhalten. Es steht in der literarischen Traditon der Danziger Trilogie von Günter Grass und der Jahrestage von Uwe Johnson. Ein geniales Zeitpanorama. js
1002 Seiten
34,00 €
Herbst 2016

Mathias Enard: Kompass
Hanser Berlin
Was ist der Andere? Was ist der Andere in uns selbst, fragt der Protagonist in Mathias Enards Roman "Kompass" und führt damit leitmotivisch in das Zentrum dieses außergewöhnlichen, mit dem Prix Goncourt gekrönten Buchs. Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des kranken Wiener Musikwissenschaftlers Franz Ritter, der während einer schlaflosen Nacht „halb geträumte“ Erinnerungen aufsteigen lässt, in denen sich die Geschichte der europäischen Faszination für die „Andersheit“, den Orient, widerspiegelt. Franz Ritters Reflexionen entfalten von der österreichischen Hauptstadt, der porta orientis, über Istanbul und Teheran bis nach Palmyra ein kulturelles Beziehungsgeflecht; ein weites geisteswissenschaftliches Panorama, das sich nur durch einen seit vielen Jahrhunderten gesuchten Austausch zwischen Orient und Okzident denken lässt. Neben Pilgern, Forschern und Wissenschaftlern verknüpfen in Ritters Selbstgesprächen Dichter (Goethe, Hofmannsthal, Hugo, Balzac) und Komponisten ( u.a. Mozart, Liszt, Hindemith) reale Begegnungen und kreative Einfälle zu Narrativen, die den Roman zu einem vergnüglichen, aber durchaus anspruchsvollen und gelehrten Orientexkurs verdichten. Zu Ritters glücklichen Erinnerungen gehören auch die Begegnungen mit der Literaturwissenschaftlerin Sarah, die aber sein Begehren nicht erwidert. Seine Sehnsucht nach ihr ist wie das Echo in einem Sehnsuchtsraum, in dem unser Blick auf das Morgenland noch voller Idylle und unbeschädigt von Terror und Religionskrieg war. Mathias Enard widmet Kompass den Syrern. Ihr Schicksal steht heute exemplarisch für unser gewandeltes Bild vom Orient: Ihre Flucht nach Europa ist zu unserer Furcht vor dem Osten geworden. be
416 Seiten
25,00€
Herbst 2016

Jerome Charyn: Blue Eyes
Diaphanes Verlag
In seiner Heimat äußern sich Kollegen wie Michael Chabon und Don DeLillo bewundernd und voller Hochachtung über ihn, in Frankreich wurde er zum Ritter des Ordens der Künste und der Literatur ernannt. Hierzulande ist er immer noch ein Geheimtip: Jerome Charyn, 1937 als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren, gilt mit seinem vielfältigen Werk als Chronist der Stadt, als „Homer der Bronx“, als „Balzac Manhattans.“ Er hat zwei Biographien verfasst: eine über Isaak Babel, die andere über Quentin Tarantino, und hiermit werden schon die Pole deutlich, zwischen denen sich Stoff und Stil seiner Romane bewegen.
Im Zentrum seines Werks steht die 1974 begonnene Saga um den enigmatischen Anti-Helden Isaac Sidel, dessen Weg vom Präsidenten der New Yorker Polizei über das Bürgermeisteramt bis ins Weiße Haus führt. Sidel ist die Inkarnation aller Detektive und Verbrecher der Stadt, er mordet, er rettet Menschenleben, er richtet, er verzeiht: eine mythisch anmutende Figur mit exzellenten Beziehungen zu allen Zweigen der Mafia. Diese Bücher der Gattung Kriminalroman zuzuschlagen wäre ungenau; vielmehr wird eine Archäologie des Verbrechens betrieben, hier werden Kriege geführt wie in antiken Epen, simple Fälle zu lösen gibt es hier nicht. Die Sprache ist schnörkellos, erzählt wird rasant, halluzinatorisch, sehr noir.
In Deutschland gab es mehrere Versuche von verschiedenen Verlagen, sich dem Werk Charyns zu nähern. Jetzt liegt mit „Blue Eyes“ der erste der auf zwölf Bände angelegten vollständigen Neuausgabe der Sidel-Romane vor, in vortrefflicher Ausstattung, silbern matt-glänzend. Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann. gw
304 Seiten
14,95 €
Sommer 2016

Michail Prischwin: Der irdische Kelch
Guggolz Verlag
„Und was ist Russland? Am einen Ende geht die Sonne auf, am anderen unter, und auf einem so großen Territorium sagen alle, dass es zu wenig Land gibt und die Leute hätten nichts anzuziehen, gibt es auf Erden ein närrischeres Land als Russland?“
1922 schrieb Michail Prischwin mit dem „Irdischen Kelch“ ein noch heute irritierend modern wirkendes Prosastück nieder, das die brutale Zwangskollektivierung der ländlichen Güter durch die Bolschewiki 1919 zum Thema hat. Schauplatz ist ein abgelegen im Sumpf liegendes Empireschloss, das infolge der Umnutzung durch die neuen kommunistischen Machthaber binnen kurzer Zeit katastrophal heruntergekommen ist. Der Lehrer Alpatow, ein alter ego Prischwins, soll hier ein Museum des Gutslebens einrichten. Inmitten eines Ensembles skurriler Gestalten, Muschiks, Apparatschiks, Moosbeerweibern und Popen wird er gewahr, wie nicht nur das gesellschaftliche Leben aus den Fugen gerät, sondern wie auch die Natur sich nach den gewalttätigen Eingriffen langsam vom Menschen verabschiedet.
Prischwin bangte um die Veröffentlichung seines Buches und schrieb offensiv einen Brief an Trotzki. Dieser attestierte ihm zwar künstlerisches Talent, im Übrigen sei die Erzählung jedoch durch und durch konterrevolutionär. Erst 2004 konnte in Russland eine vollständige, unzensierte Ausgabe erscheinen.
Wir haben jetzt das Glück, dieses literarische Kleinod in einer bibliophil gestalteten Ausgabe in deutscher Übersetzung lesen zu dürfen. Geborgen hat diesen Schatz der auf osteuropäische und nordische Literatur spezialisierte Guggolz Verlag, übersetzt und mit unerlässlichen Anmerkungen versehen wurde das Buch von Eveline Passet, und Ilma Rakusa bringt in ihrem erhellenden Nachwort das Phänomen dieser faszinierenden Prosa auf den Punkt:
„Mitnichten eine flüssige Lektüre. Prischwins dokumentarisch abgefederte Erzählung ist kantig und bizarr, berührend und komisch, bitter und schön, schockierend und phantastisch, sie lebt von prägnanten Details, die dem Text Glaubwürdigkeit und Würze verleihen – und jeden Ideologen das Fürchten lehren.“ gw
171 Seiten
20€
Frühjahr 2016

Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21.Jahrhunderts.
Als Theaterautor begibt sich Roland Schimmelpfennig nicht selten auf die Spur von dysfunktionalen (Paar,-)Beziehungen. Dahinter scheint oft die Absicht auf, ein vermeintliches Idyll zu entlarven und innerhalb komplexer Lebenszusammenhänge Lebenslügen zu enttarnen. Die Mittel der Collagetechnik und surreale Elemente werden zu Trägern einer Erzählform, die dem Moralisten Schimmelpfennig einen beständigen Fingerzeig auf unsere disparaten Zustände und Widersprüchlichkeiten ermöglicht. Auch hier, in seinem ersten, geglückten Roman, werden unterschiedliche Lebensperspektiven verschiedener Paare angeschnitten, deren Wege sich durch ein Ereignis plötzlich kreuzen: ein Wolf ist in der Stadt. Ob es den Wolf tatsächlich gibt, bleibt offen, vielleicht ist er auch nur „ein dunkler Fleck im Schnee“. Die mögliche Konfrontation mit der animalischen Seite der Welt verunsichert und setzt Ängste, aber auch Sehnsüchte nach menschlicher Wärme und Zusammengehörigkeit frei. Schimmelpfennig erweist sich als ein Meister der knappen, lakonischen Sprache. Sie erforscht atmosphärisch genau die filigranen, seelischen Erschütterungen. Sie belauert und umkreist, bis schließlich mit den Figuren auch der Leser ahnt, dass, seit der Wolf aufgetaucht ist, nichts mehr ist, wie es vorher war. be
256 Seiten
19.99€
Frühjahr 2016

Gaziel: Nach Solniki und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg
Berenberg
„Befördert von unfähigen Politikern, beleidigten Monarchen und nationalistisch verbohrten Militärs“ tritt der europäische Kontinent 1914 in den Ersten Weltkrieg ein.
Der Balkan wird unter Einfluss der europäischen Großmächte zum Kriegsschauplatz und tausende Menschen flüchten im Jahr 1915 vor den über Mazedonien und Serbien anrückenden bulgarischen und deutschen Truppen, die gegen die französisch-britische Allianz in Griechenland vorrücken.
Ein junger Journalist aus Barcelona, Gaziel, eigentlich Augustì Calvet, geboren 1887, aus wohlhabendem Haus mit gutbürgerlichem Hintergrund, ist abenteuerlustig, von der Antike begeistert und mutig genug den nahenden Frontlinien entgegen zu reisen.
Mit dem Schiff Adriatikos über Italien nach Griechenland, später in Begleitung eines dolmetschenden Freundes mit einem alten klapprigen Wagen geht es im November 1915 über das von Engländern und Franzosen besetzte Saloniki, weiter durch Kälte und schneebedeckte Berglandschaften nach Monastir, wo er auf die von deutschen und bulgarischen Truppen vertriebenen Flüchtlingsströme trifft: „Während wir uns Monastir nähern, durch die anrollenden Wellen von Flüchtlingen hindurch, ist mir, als erlebte ich eine der tausendjährigen Szenen der Pest, des Elends und des Schreckens, die das moderne Bewusstsein noch bis vor zwei Jahren für immer ins barbarische Dunkel des Mittelalters verbannt zu haben schien“.
Gaziels Blick ist nicht immer frei von Stereotypen und antisemitischen Vorurteilen seiner Zeit, doch stets ist er politisch hellwach, teilnehmend und offen für die Nöte und das unbeschreibliche Leid der vertriebenen Menschen, welcher Religion oder Nationalität auch immer. Entschieden wendet er sich gegen Irrsinn und Absurdität eines von Flüchtlingen unverschuldet hinzunehmenden Elends.
Ein ungemein dichtes, ergreifend unmittelbares Zeugnis, das die beeindruckenden Landschaften Griechenlands und des Balkans, die kulturelle und menschliche Vielfalt dieser Regionen, die verfehlte Politik und die erschütternden Schicksale dieser Zeit erfasst. Gaziels Bericht ist erschreckend aktuell. mc
240 Seiten
25.00 €
Frühjahr 2016

Antonia Baum: Tony Soprano stirbt nicht
Hoffmann und Campe
Antonia Baums letzter Roman hieß "Ich wuchs auf einem Schrotthaufen auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren." Er handelt von drei Kindern, die, so die Autorin, „auf ihren Vater warten, ihr ganzes Leben lang, und die ihn, während des Wartens, am Leben erhalten, indem sie sich Geschichten über ihn erzählen, indem sie seine Wörter benutzen und seine Scherze machen.“ Kurz vor Erscheinen des Romans erfährt Antonia Baum, dass ihr Vater nach einem schweren Motorradunfall auf der Intensivstation liegt.
In den Wochen und Monaten danach entstanden die vorliegenden zutiefst skrupulösen Aufzeichnungen. Ihren Titel verdanken sie einer Folge der legendären Mafia-Fernsehserie "Die Sopranos", in der Tony Soprano angeschossen wird und, im Krankenhaus bewacht von seiner bangenden Familie, mit dem Tod ringt. Natürlich überlebt Tony Soprano. Einige Jahre später aber stirbt überraschend James Gandolfini, der herausragende Darsteller des Tony Soprano, an einem Herzinfarkt.
Das Buch ist das bewegende Zeugnis einer tiefen Verunsicherung, die für Antonia Baum nicht anders als schreibend zu bewältigen ist. „Warum schreibe ich? Weil ich muss, weil ich nicht allein sein kann, weil ich Angst habe, weil ich herausfinden will, was passiert ist und was ich darüber denke; weil ich etwas gegen den Tod tun will.“ Vor allem geht es um den Einbruch der Realität in die Kunst, um autobiographisches Schreiben, mithin um Verantwortung und Schuld: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen dem Roman und den realen Vorgängen, die letztlich zum Unfall des Vaters geführt haben? Die Autorin zitiert die von ihr verehrte Joan Didion: „Schriftsteller liefern immer jemanden ans Messer.“ Aber auch: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“ Und so stehen am Ende des Buches drei verstörende Geschichten, „Möglichkeiten“ nennt sie Antonia Baum. Sie stehen für sich, sie heilen nicht und haben auch keinen Anteil daran, dass das Buch verhalten hoffnungsvoll endet. Jedoch: „Ich wusste, dass ich das Leben nicht lesen kann wie einen Roman, in dem Zeichen versteckt sind, und ich wusste, dass Drehbücher und Geschichten keine Programme sind für das, was vor einem liegt... Aber ich weiß nicht, was ich ohne diese Geschichten gemacht hätte. Und ich weiß auch nicht, was ich ohne das Schreiben gemacht hätte.“ gw
150 Seiten
25,00 €
Frühjahr 2016

Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin
Rowohlt Berlin
„Das Vergangene,“ schreibt Harry Mulisch, „ist ebenso unsicher wie die Zukunft. In der Zukunft kann (fast) alles noch geschehen – doch auch in der Vergangenheit kann fast alles geschehen sein.“
Marie von Schabow, geboren 1920, verheiratet seit 1941 mit Reinhard von Mollwitz, vierfache Mutter, erfüllt sich kurz vor ihrem 50.Geburtstag den Wunsch, endlich das Buch ihrer Familiengeschichte zu beginnen: drei Liebesgeschichten, drei Lebensentwürfe in drei Kriegen.
Anfang 1970 begleiten wir sie auf einer Bahnreise nach Holland, wo sie in den königlichen Archiven Dokumente über ihre während der napoleonischen Kriege illegitim gezeugte Ururgroßmutter Minna aufzufinden hofft. Ihre Eindrücke auf der Reise, die Gedanken über ihr eigenes Erleben und das ihrer Eltern und der Großeltern in den Kriegen und Nachkriegszeiten des
20. Jahrhunderts ergeben das Gerüst für das geplante Buch. Der Leser wird hineingezogen wie in einen Film, dessen einzelne Schnitte nach und nach die Lebenswirklichkeit der Menschen abbilden, die in zusammenbrechenden Ordnungen aus ihren Lebensbahnen geworfen werden, Verlust und Tod, Not und Vertreibung erleiden müssen.
Es ist ein verständnisvolles, liebevolles Erinnern mit großer Empathie, in einer unaufgeregten, nachdenklichen Sprache geschrieben. Jeder Gedanken-Absatz endet nicht mit einem Punkt: So war es! Er endet mit einem Gedankenstrich: So könnte es gewesen sein - so könnten es unsere Vorfahren empfunden haben.
Danke, lieber Büchner-Preisträger, für dieses Meisterwerk. js
208 Seiten
18,95€
Frühjahr 2016

Ferdinand Hardekopf Briefe aus Berlin. Feuilletons 1899 - 1902
Nimbus
"Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen." Das gilt für viele vergessene Autoren des 20. Jahrhunderts: Auch und ganz besonders für Ferdinand Hardekopf.
Allenfalls dem ein oder anderen als expressionistischer Lyriker oder/und als profunder Übersetzer französischer Literatur bekannt, war er weit mehr als das: nämlich einer der geschliffensten Feuilletonisten, den die Hauptstadt je, neben Alfred Kerr natürlich, gehabt hat.
1876 in Varel (Friesland) geboren, kam er 1899 nach Berlin und wurde Stenograf im Deutschen Reichstag. "Gelegentlich besuchte er auch die Universität, doch die Berliner Boheme zog ihn weitaus mehr an." " wollte er sein... nicht Hüter der hohen Dichtkunst", sondern einer, der über die Gegenwart und das flirrende Leben der Straße und über die Vergnügungen in den Theatern, Varietés, Cafés und Unterhaltungsbuden schrieb. 1899 bekam er einen Auftrag der Eisenacher Tagespost und die Berichte aus Berlin, ach was sage ich, Berichte, das sind kleine, pointiert geschliffene feuilletonistische Kunstwerke, in und für die thüringische Provinz fanden über vier Jahre lang glückliche Leser. Und immer ist es das Kulturleben, "die Synthese von hoher Bildung und niedrigem Genuss des Moments", die ihn zu wahrhaft brillanten, wunderbar ironischen und stilsicheren Texten anspornt. Über den Kaiser und den Adel berichtet er nicht. Das hat ihn nicht interessiert. Ibsen, Hauptmann, Frank Wedekind, die Kunstsalons und die Secession, das sind seine Themen: der nervöse Umbau Berlins zu einer Weltmetropole ist in vollem Gang. Und Hardekopf ist mit Stil, Freundlichkeit, Witz, Ironie und Neugier ihr perfekter Chronist.
Hardekopf hasste den Krieg und so ging er 1916 in die Schweiz ins Exil. Er kam noch einmal zurück nach Berlin, verließ es aber 1922 endgültig, für immer ein Staatenloser. Später in Frankreich hatte er Glück und wurde Dank einer Intervention André Gides wieder aus dem Internierungslager entlassen. Nach dem Krieg lebte und übersetzte er wieder in der Schweiz, wollte lieber staatenlos sein, als einen Deutschen Pass besitzen. Er war ein Vermittler der französischen Literatur, die er so geliebt und bis zu seinem Lebensende wie ein Besessener übersetzt hat.
"Nie gelingt das Dasein richtig, nur der Dicht-Extrakt bleibt wichtig." F.H.
Bernhard Echte, Verleger und Robert Walser Experte, hat diesen wunderbaren Band in seinem Nimbus Verlag, Halbleinen und Lesebändchen, wie es sich gehört.
"Unbegrenzt haltbar" sg
224 Seiten
28,00€
Frühjahr 2016

Etgar Keret: Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn
Übersetzung: Daniel Kehlmann
Fischer Verlag
Etgar Keret, Jahrgang 1967, zählt zu den spannendsten und begabtesten jüngeren Autoren Israels. Er schreibt Erzählungen, Drehbücher, Graphic Novels und lebt mit Frau und Kind in Tel Aviv. Etgar Keret hat eine ganz eigene Stimme: schnell, mitfühlend, manchmal überspannt, voller Humor, bizarr - er verzichtet darauf zu moralisieren und weigert sich, alles zu politisieren. Der Mensch hat, was immer geschieht, sein ganz persönliches, einmaliges und nicht austauschbares, individuelles Leben.
Wir haben es hier nicht mit Erzählungen zu tun, sondern mit einem sehr persönlichen, intimen Journal. Sieben "glückliche" Jahre seines Lebens. Es beginnt mit der Geburt seines Sohnes während eines Raketenangriffs, alle Ärzte sind unterwegs, um Verletzten zu helfen, das Ungeborene hat instinktiv Geduld auf die Welt zu kommen, und endet mit dem Tod seines Vaters, eines Holocaust-Überlebenden. Dazwischen: ein Leben als Vater, Sohn, Mann und Bruder, viel Alltag in Israel: verrückt, gefährlich, oft surreal und ja, auch urkomisch.
Kann ein Mensch sieben gute Jahre haben in einem Land, das sich in ständiger Angst und seit ewigen Zeiten im Krieg befindet? Gut, ja, was ist ein gutes Leben? An einer Stelle ist die kleine Familie unterwegs und es kommt urplötzlich ein Raketenangriff. Sie verlassen das Auto, legen sich in den Straßengraben und spielen Pastrami-Sandwich, sprich: Butterbrot: Die Eltern sind das Brot (oben und unten) und in der Mitte das Kind, dass die Wurst spielen muss. Wie schütze ich mein Kind? Dieses Buch erscheint nicht auf hebräisch, Etgar Keret wollte es nicht. Es sei zu privat. Die deutschen Leser dürfen es lesen und sollten es unbedingt tun! Überwältigend und bewegend! sg
224 Seiten
19,99€
Frühjahr 2016

Christoph Hein: Glückskind mit Vater
Suhrkamp
Kriegsende 1945 in einer ostdeutschen Kleinstadt – Konstantin, am 14. Mai geboren und „Held“ dieses Romans, ist für seine Mutter ihr „Glückskind“: Zwar bewahrt die Schwangerschaft sie nicht davor, ihre Villa verlassen zu müssen, aber vermutlich vor Schlimmerem.
Erst mit elf Jahren erfährt Konstantin die Geschichte seiner Familie, bis dahin hatte die Mutter geschwiegen: über den Namenswechsel, über die gesellschaftliche Stellung des Vaters in der Stadt, wo er als Fabrikbesitzer bis Kriegsende der wichtigste Arbeitgeber war, über seine Partei – und SS-Mitgliedschaft, und seine Hinrichtung in den letzten Wochen des Krieges.
Noch als Toter herrscht der Vater über die Stadt, von den einen gehasst, den anderen bewundert. Für Konstantin wird er zum Phantom. Sein Leben lang wird er der Sohn von Gerhard Müller bleiben und darunter leiden.
Mit dieser Lebensgeschichte erzählt Christoph Hein von über 60 Jahren deutscher Geschichte: von Lüge und Verdrängung in beiden deutschen Staaten, von Menschen, die in jedem System Sieger bleiben und von jenen wie Konstantin, für die die Vergangenheit immer Gegenwart bleibt. rg
527 Seiten
22,95€
Frühjahr 2016

JOHN DOS PASSOS: MANHATTAN TRANSFER
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt
1925 erschien mit Manhattan Transfer einer der großen Romane der amerikanischen Moderne: fragmentarischer Querschnitt durch die New Yorker Gesellschaft, dokumentarische Filmcollage und sozialkritische Fiktion zugleich. In einer Vielzahl von Figuren öffnet sich vor dem Leser das Panorama der Stadt. Den meisten der mehr als hundert Personen begegnet man nur einmal, wie beiläufig und doch bedeutsam. Nur einige Charaktere halten den Roman zusammen.
Der Blick des Autors fixiert Augenblicke im Großstadtdschungel, seine rhythmische Prosa folgt dem Pulsieren der Metropole. Sie ist der Protagonist. Gefräßig droht sie alle anderen Figuren zu verschlingen. Die radikale Modernität und stilistische Brillanz dieses Werkes kann nun in der neuen Übersetzung von Dirk van Gunsteren wiederentdeckt werden. sd
592 Seiten
24.95 €
Frühjahr 2016

ANNIE ERNAUX. DER PLATZ
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp VerlagDie französische Autorin Annie Ernaux veröffentlichte 1983 in ihrer französischen Heimat einen sehr schmalen Text: "La Place", "Der Platz", erscheint nun endlich erstmals auf Deutsch. Auf nicht einmal einhundert Seiten lesen wir eine atemberaubend analytische Erkundung einer Herkunft, die zu einer Selbstbefragung und Milieuerzählung wird und mich an Albert Camus’ "Der erste Mensch" erinnert hat. In der nordfranzösischen Provinz aufgewachsen, schildert Annie Ernaux, woher sie kommt: Das Leben der Großeltern und Eltern ist der Notwendigkeit geschuldet zu arbeiten, um zu überleben, Bücher gibt es keine in dieser Welt, vielleicht die Bibel. Annie darf zur Schule, sie darf lernen, auch über das übliche Maß hinaus, und alles "Nahe wird ihr fremd". "Vor den Verwandten und Kunden Verlegenheit, fast Scham, weil ich mit siebzehn noch kein eigenes Geld verdiente …" Schuldgefühle begleiten diesen Aufbruch, diese Reise zu sich selbst. Das Schreiben, woher man kommt, ist zwingend. "Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der auch ich ein Teil gewesen bin. Der sachliche Ton fällt mir leicht …" Weltliteratur! Silke Grundmann
94 Seiten
18€

Henning Mankell: Treibsand
Zsolnay
Mankell hat Krebs. Den existenziellen Schock dieser Diagnose kennen viele, andere können ihn sich vorstellen. Man versteht, dass er bei manchem zum – durchaus nachahmenswerten – Anlass wird, sich den grundlegenden Fragen des Lebens zuzuwenden, sei es in Verzweiflung oder vielleicht mit einer Art rücksichtsloser Abenteuerlust. Für Mankell wird der Schock zum Impuls für eine Zivilisationskritik, in welcher er sich und dem Leser bedeutende Hinterlassenschaften der Menschheit, bemerkenswerte historische Ereignisse, Kunstwerke und persönliche, prägende Erlebnisse einfühlsam vergegenwärtigt, und daran die Fragen nach Vergänglichkeit, Erinnern und Vergessen erörtert. Seine Kritik an unserer Zivilisation speist sich aus der Frage, was unsere heutige den zukünftigen Generationen hinterlassen wird, was man von uns vergessen, was erinnern wird.
Treibsand ist kein Buch, das dem Leser detailliert die Leiden von Krebserkrankung und Chemotherapie vorführt – obwohl es dem Thema nicht ausweicht. Der Titel ist ja nicht ohne Grund gewählt, denn wie in Treibsand fühlt sich der Autor nach der Diagnose versinken. Nein, kein Krebsbuch, vielmehr ein ernstes und sehr inspirierendes Nachdenken über das, was wir Menschen sind. An einer Stelle meint Mankell, das Leben sei eine Tragödie. Die tröstlichen Illusionen der Religion lehnt er für sich ab, und verliert dennoch nicht einen gewissen Optimismus.
Ich habe mich jedes mal beim Aufschlagen des Buches auf dieses ernste und anregende Zwiegespräch mit dem Autor gefreut – und wurde niemals enttäuscht. kp
384 Seiten
24,90 €
Herbst 2015

JIŘÍ WEIL. MENDELSSOHN AUF DEM DACH
Wagenbach Verlag
In der Philharmonie des besetzten Prags hört Reinhard Heydrich, stellvertretender Reichsprotektor und kenntnisreicher Musikliebhaber, Mozart. Nach dem Konzert, auf sein Auto wartend, entdeckt er auf dem Sims des Konzerthauses die Statue des Komponisten Mendelssohn. Wütend über diesen Hohn befiehlt er deren sofortigen Abriss. Die damit beauftragten Arbeiter jedoch wissen nicht, welche der Figuren Mendelssohn sein könnte, einer meint »na der mit der längsten Nase« – das aber ist Richard Wagner. In absurden Bemühungen wird der Komponist identifiziert. Die Arbeiter zertrümmern die Statue nicht, sondern legen sie sorgsam aufs Dach, von unten nicht mehr sichtbar – wer weiß?
Mit dieser Groteske beginnt der Roman. Es ist die Zeit der beschleunigten Deportationen nach Osten, der Einrichtung der Festung Theresienstadt als Konzentrationslager, aber auch der Beginn des Widerstands, der zum Attentat und Tod Heydrichs führt. Jirí Weil, der in Prag illegal überlebt hat, beschreibt leise, nicht dramatisierend, die immer bedrohlicher werdende Situation der Menschen, die perfekte Organisation der Unterdrückung, die Solidarität Einzelner mit den Verfolgten, aber auch die kleine Freude einer Flussfahrt auf der Moldau. Ein erschütterndes Kapitel erzählt vom Alltag in Theresienstadt und wie durch den Wunsch der SS nach immer schnelleren Deportationen Bahnschienen in die Stadt verlegt werden. Mit den Eisenbahnern dringen Nachrichten und Hoffnung ein. Der Roman endet mit dem Tod zweier kleiner jüdischer, von der Gestapo aufgegriffener Mädchen, die auf die Frage, wer sie versteckt habe, immer nur antworten „wir waren im Wald“ – Bäume, Wald – für Jiří Weil Symbole von Leben und Hoffnung in einer versteinerten Welt. Renate Georgi
283 Seiten
22€

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen
Knaus
Richard, emeritierter Professor für Altphilologie, hat „jetzt einfach nur Zeit“: Richard muss jetzt nicht mehr frühmorgens pünktlich aufstehen. „Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar... Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit. Auf einmal.“
Richard schaut alles in allem auf eine erfüllte Lebenszeit zurück. Gut, es gab Brüche, wie in jedem Leben, seine Frau ist früh verstorben, seine Geliebte hat ihn betrogen. „Nun aber quält ihn nicht die Zeit, die mit einer unnützen Liebe ausgefüllt ist, sondern die Zeit an sich.“
Zeit haben auch andere, unfreiwillig viel Zeit: die Flüchtlinge vor dem Roten Rathaus in Berlin. Und außer dieser Zeit haben sie nichts mehr. „We become visible“ steht auf ihren handgeschriebenen Schildern und so kommt es, dass Richard dem Aufruf in der Zeitung „Der Berliner Senat lädt Anwohner und Flüchtlinge zur Beratung der Lage in die Aula der besetzten Kreuzberger Schule ein“ folgt. Richard macht die „Sache mit den Flüchtlingen“ zu einer Art persönlichem Projekt. Und zu einem richtigen Projekt gehört eine solide Kenntnis der Dinge, um die es geht, und eine präzise und gute Vorbereitung.
Es ist ihm wichtig, die richtigen Fragen zu stellen: „Und die richtigen Fragen sind nicht unbedingt die Fragen, die man ausspricht...Um den Übergang von einem ausgefüllten und überschaubaren Alltag in den nach allen Seiten offenen, gleichsam zügigen Alltag eines Flüchtlingslebens zu erkunden, muss er wissen, was am Anfang war, was in der Mitte – und was jetzt ist.“
„Wer sind diese Menschen überhaupt? Warum können Sie nicht dort sein, wo sie eigentlich sein wollen – in ihrer Heimat? Und wer sind wir, dass wir sagen dürfen, es sind zu viele?“
Jenny Erpenbecks Romane haben immer mit den Fragen über Herkunft, Entwurzelung, Identität und Flucht zu tun. In diesem Buch nun widmet sie sich dem wohl wichtigsten politischen Thema unserer jetzigen und zukünftigen Zeit. Und wie sie das macht verdient allergrößte Bewunderung und Respekt. Nichts entgleitet ihr in diesem Buch: Es gibt keine unreflektierten Sätze, keine Klischees, keine Verallgemeinerungen, keinen moralischen Zeigefinger, keine Scheinheiligkeit, keine einfachen Wahrheiten und keine billigen Lösungen. Was es allerdings gibt, und dafür verehre ich diese Autorin, ist ein so überwältigend kluger, auch aufklärerischer und überzeugender Versuch, den Horizont unseres In-der-Welt-Seins zu öffnen, ohne immer schon Antworten auf Fragen parat zu haben, die wir uns nicht zu stellen genötigt sehen, aus welchen Gründen auch immer. Richard jedenfalls stellt die richtigen Fragen. Sie verändern sein Leben und Denken und Handeln. Ohne Enttäuschung geht das nicht – aber ohne Engagement eben auch nicht. Nein, es geht hier nicht darum, die ganze Welt zu retten. Eher schon um die einfachste und schwierigste aller Fragen: Wer will ich in diesem Leben sein?
Dies ist ein Roman, den ich jedem dringend zu lesen empfehle. Sie kommen da anders heraus, als Sie hinein gegangen sind. Und was will man mehr von einem Roman! Ein echtes Bildungserlebnis! sg
351 Seiten
19,99€
Herbst 2015

OLIVIER ROLIN. BAIKAL-AMUR. EIN REISEBERICHT
Fast 4287 km Strecke Schienenweg vom Herzen Sibiriens bis zum Ende Eurasiens, fast 150 Stunden in Zügen, legt Rolin bis zum Pazifischen Ozean zurück - vorbei an u.a. vom Gulag-System geprägten Städten und Landschaften, wo Verfall und Zerfall unmittelbar nebeneinander und die Opfer der unter nur schwer vorstellbarem Leid geleisteten Aufbauarbeit meist nur wenige Zentimeter unter der Erde liegen. Rolin begegnet Landschaften, Städten und Menschen, vor allem ihren Geschichten mit großer Neugier und Offenheit, manchmal auch mit verständlicher Distanz und leisem Humor. Stets wahrt er dabei Respekt und Bewunderung für menschliche Überlebenskraft und Überlebenswillen: „und (ich) begreife allmählich, daß dieses Land, diese Menschen Katastrophen erlebt haben, von denen wir uns keine Vorstellung machen und die es uns einfach nicht erlauben, sie nach unseren bequemen Gewißheiten zu beurteilen“.
Olivier Rolin zweifelt kokett, ob Reiseberichte überhaupt gelesen werden – diesen liest man ohne Zögern mit großer Begeisterung. Malcah Castillo
20€

Charles Haldeman Der Sonnenwächter
Metrolit
Es ist eine späte Entdeckung: mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen ist dieses Buch, das über weite Strecken in Deutschland spielt und deutsche Geschichte verhandelt, auch in deutscher Sprache zu lesen. Charles Haldeman, 1931 in South Carolina als Sohn eines deutschen Emigranten und einer Amerikanerin geboren, verarbeitet in seinem Debütroman eigene Lebensstationen, vor allem in dessen zweitem Teil, wo er sein Alter Ego Stefan Brüggemann im Heidelberg der fünfziger Jahre studieren lässt. Dieser hat hier bereits eine schmerzvolle Odyssee hinter sich: dunkelhäutig, da Sohn eines Roma-Vaters, entkommt er dem Tod in Auschwitz nur durch Zufall, folgt einem G.I. in die Südstaaten der USA und kehrt – nach dessen Tod – über Paris zurück nach Deutschland. In der Schilderung dieser Nachkriegsgesellschaft, der akademischen Bohème, dem Gemisch aus Kriegsheimkehrern, ehemaligen Kollaborateuren und Mitläufern, entwickelt der Roman eine ungeheure Spannung und Dichte. Vollends zum Schlüsselroman wird er, als Stefan auf die Dichterwitwe Regina Speer trifft. In Paul Speer nämlich ist kaum verschlüsselt der Lyriker Rainer Maria Gerhardt erkennbar, ein genialischer Wegbereiter der literarischen Nachkriegsmoderne und früher Vermittler zeitgenössischer amerikanischer Lyrik, der sich mit 27 Jahren das Leben nahm. Seiner damaligen Frau Renate ist Der Sonnenwächter gewidmet.
Haldemans Roman, sprachmächtig, komplex gefügt, verstörend, rätselhaft oft, doch nie verrätselt, ist selbst ein atemberaubendes Zeugnis der Moderne, auch heute noch, mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen.
335 Seiten
25,00€
Herbst 2015

JUREK BECKER. AM STRAND VON BOCHUM IST ALLERHAND LOS
"Du alte Hemmschwelle, Du olle Kuchengabel, Du heller Wahnsinn, Du alte Salatschleuder, Du altes Zinsgefälle, Du süße Blutwurst, Du griffige Formel, Du flammendes Inferno, Du lieber Kullerpfirsich, Du olles Vorderrad, Du billige Ausrede, Du altes Schweigegelübde, Du alter Ziegenkäse, Du schneller Brüter, Du kühne Tat, Du letzter Heuler, Du glückliche Fügung, Du alte Vorzugsaktie, Du verwinkeltes Viertel, Du heilloses Durcheinander, Du tiefer Einblick, Du unbedingter Gehorsam, Du geballte Ladung, Du alte Biokarotte..."
Jurek Becker, der Autor von Jakob der Lügner, war ein leidenschaftlicher Postkartenschreiber: Mit seinem unglaublich schrägen Humor, seiner liebevoll zärtlich, melancholischen Sicht auf das Leben, seiner grenzenlosen Lebensfreude und seinem warmen, empathisch lakonischen Ton schrieb er von unterwegs Postkarten, bildmotivisch sorgfältig ausgesucht, an Skurrilität kaum zu überbieten und von langer Hand geplant. Etwa 400 davon sind in dies em Band versammelt, der den köstlichen Titel: Am Strand von Bochum ist allerhand los trägt. Ein großer Spaß! Eine große Liebeserklärung! Ein kostbares Buch! Du olles Email-Postfach, schreib doch mal wieder eine Postkarte! Silke Grundmann
32€

Michail Ossorgin: Eine Strasse in Moskau
Die Andere Bibliothek
Michail Ossorgin wurde 1878 in Perm in eine Adelsfamilie hineingeboren, studierte Jura, beteiligte sich schon 1905 an den revolutionären Ausschreitungen, wurde verhaftet, konnte ins Ausland fliehen, lebte bis zu seiner Rückkehr 1917 in Italien, wo er als Journalist liberaler russischer Zeitungen arbeitete. Er war von der Notwendigkeit der Revolution 1917 zunächst überzeugt und bald danach über die vollkommene Abkehr von der Einsetzung bürgerlicher Freiheiten bitter enttäuscht. Als Konterrevolutionär und „bürgerlicher Volksverderber“ wurde er 1922 mit 223 anderen Intellektuellen auf persönlichen Befehl Lenins mit einem der sogenannten „Philosophenschiffe“ außer Landes gebracht: Ausweisung auf Lebenszeit.
„Wir haben diese Leute ausgewiesen, weil es keinen Grund gab, sie zu erschießen, sie zu ertragen aber, war unmöglich“, kommentierte Trotzki.
Ossorgin ging zunächst nach Berlin, später nach Paris. Das Leben in der Emigration war hart. Er war ein „Zeitungsarbeiter“ und schlug sich durch. 1928 erschien in Paris in einem Emigrantenverlag „Eine Straße in Moskau“, 1929 eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Der Wolf kreist. Ein Roman aus Moskau“. Ossorgin starb als staatenloser Flüchtling 1942 in Frankreich.
Der Roman beginnt im Frühjahr 1917 und endet in Erwartung des Frühlings im Winter 1920. Das historische Geschehen jener Zeit, Krieg und Revolution wird aus wechselnden Perspektiven erzählt. Im Mittelpunkt aber stehen ein Haus in einer berühmten Moskauer Straße, bevorzugter Wohnort der russischen Intelligenzija, und dessen Bewohner, die Familie und der Freundeskreis eines Professors für Ornithologie.
Über sie alle, die in diesem Haus ein und aus gehen als Vertreter der bürgerlichen Welt und Werte, fegen die Erschütterungen der Zeit hinweg, zunächst der Erste Weltkrieg und bald danach die ganz „große Katastrophe“, die komplette Umwälzung aller bis dahin geltenden Ordnung. Man tauscht nach und nach Bücher gegen Brot und nimmt doch alles irgendwie klaglos hin, als sei es eine gewaltige Naturkatastrophe, ein sich wiederholendes Gehen und Vergehen, sinnlos, sich dagegen aufzulehnen. Ossorgin erzählt von Krieg, Chaos, Zerstörung und Gewalt, vom Aufstieg der dumm-dreisten Mitläufer und vom Niedergang empfindsamer Menschen. Er ist ein enorm sprachmächtiger Autor, stilistisch absolut sicher gehört er zweifelsfrei zu den großen Klassikern der russischen Literatur. Gleichzeitig ist er ein moderner Schriftsteller, der virtuos mit dem Wechsel von realistischem und symbolisch-parabelhaftem Erzählen spielt. Wir, die Leser, betrachten das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln, gewissermaßen durch die Augen der Protagonisten. So haben wir es hier trotz expressiver Kriegs- und Revolutionsgeschichten auch mit einem Werk tiefster Menschlichkeit zu tun, das uns die große Liebe eines Exilautors zu seiner auf immer verloren Heimat Russland spüren lässt.
Wir vollziehen lesend nach, was Ossorgin selbst über seine Art zu schreiben festhielt: „Ich schreibe keine Literatur, ich beschreibe das Leben.“ Wie wahr und ganz sicher bescheiden untertrieben. sg
520 Seiten
42€
Herbst 2015

STEPHAN THOME. GOTT DER BARBAREN
Neukamp, fasziniert von der Person und den Gedanken dieses Mannes, reist nach Nanking, mitten in die militärische Auseinandersetzung zwischen diesem zweiten Messias und seinem Gegenspieler, einem eher der Philosophie und einem reformistischen Konfuzianismus zugeneigten mächtigen General des Mandschureichs. Auch die Engländer mischen mit ihren Kriegsschiffen und Kanonen heftig mit. Neukamp kann sich am Ende retten, körperlich verletzt und in seinem idealistischen Weltbild ebenso beschädigt wie eine andere zentrale Figur des Romans, der britische Sonderbotschafter, der die Öffnung Chinas und seiner Häfen für England erreichen soll und mehr und mehr das Fatale seiner Mission erkennt.
Stephan Thomes Roman ist spannend, mit faszinierenden Personen und einem weiten Blick in die Geschiche und Gedankenwelt Chinas. Renate Georgi
25€

Olivier Rolin: Der Meteorologe
Liebeskind
Ausgehend von einem Bündel Briefe, das ihm eher zufällig in die Hände fiel, rekonstruiert Olivier Rolin die Geschichte von Alexei Wangenheim. Dieser war trotz seiner adligen Herkunft überzeugter Kommunist, er verstand seine Arbeit als Meteorologe als Dienst am Volk der Sowjetunion, seine Forschungen zu Arktis und Stratosphäre sollten Russlands Fortschritt dienen, in Wind- und Sonnenenergie sah er die Zukunft der Elektrifizierung. 1934 wird er denunziert und in ein Lager verbannt, er schreibt Gesuche und Petitionen bis an Stalin persönlich. Seiner Frau und seiner Tochter schreibt er Briefe, zweigeteilt, der obere Teil an die Mutter, der untere, voller Zeichnungen, Bilderrätsel, erzieherischer Spiele, an die Tochter. Rolin gelingt es, der Spur dieses gewöhnlichen Mannes, der an Zukunft und Fortschritt der russischen Revolution glaubte, zu folgen, bis in jenen abgelegenen Wald, in dem er 1937 hingerichtet wird. Das mit den Briefen reich illustrierte Buch, erzählt die erschütternde Geschichte eines Menschen, dessen Hoffnungen jener Revolution galten, von deren grausigen Mühlen er selbst zermahlen wurde. An seinem Beispiel zeigen sich Tragik und Schrecken der letzten großen Menschheitsutopie, für die so viele gekämpft und an der so viele zugrunde gegangen sind. sd
224 Seiten,
19,90€
Herbst 2015

JAMES BALDWIN. BEALE STREET BLUES
Die Lektüre dieses Buches hinterlässt etwas, was nur wirklich ganz große Literatur kann: Staunen, Erfüllung, das Gefühl der Teilhabe von etwas ganz Wichtigem für einen selbst, für das Verstehen von Welt. James Baldwin hat mit Beale Street Blues einen Liebesroman geschrieben, der so traurig ist und gleichzeitig so hoffen lässt, dass man ihn erschüttert und glücklich zuklappt und zum nächsten Baldwin greift. Endlich werden seine wichtigsten Bücher im Verlag DTV neu übersetzt und wieder in einem wunderbaren Deutsch lesbar.
Die Musik dieser Sprache ist eine Mischung aus Bibel, Slang und Blues. Wuchtig, direkt und schmerzhaft schön. Auf Grund einer falschen Aussage eines weißen Polizisten wird Fonny, ein junger Schwarzer, Künstler und großer Liebender, ins Gefängnis gebracht. Er soll eine junge Puerto Ricanerin vergewaltigt haben: Daran ist selbstredend nichts wahr. Die Festnahme ist schlichtweg ein Akt von Rassismus, Sadismus und Erniedrigung - strukturelle Gewalt. Fonnys Freundin Tish, deren Familie und Fonnys Vater setzen alles daran, ihn rauszuholen - doch das ist schwer. Dieser Roman ist auch ein Buch über Solidarität, Einsatz für den anderen. Die Liebe in diesem Buch hat etwas Revolutionäres - sie bewegt etwas, was über zwei Menschen hinausgeht. Ein Buch, bei aller Schwere, das Hoffnung und Optimismus hinausschreit. "Viele von unseren Lieben, viele von unseren Männern sind im Gefängnis gestorben, ja: aber nicht alle."
Nichts in diesem Roman hat Patina angesetzt, er ist thematisch und politisch so aktuell wie in den 50ern, den 70ern und auch noch (leider) heute. Dabei macht es sich James Baldwin mit der Analyse von Rassismus nicht leicht, was ihm auch damals schon, bei Erscheinen des Romans, Kritik eingebracht hat, war doch sein Standpunkt, dass es immer zwei sind, die es zur Unterdrückung eines Menschen braucht: der Andere und man selbst. „Fonny jedenfalls ist aus dieser Falle des Selbsthasses ausgebrochen: Er hat nämlich sich selbst gefunden, so richtig, innen drin: und das hat man gemerkt. Er ist niemandes Nigger. Und das ist ein Verbrechen in diesem beschissen freien Land.“ Lesen Sie dieses Buch! Es wird Sie begeistern! Und ich warte ungeduldig auf den nächsten Band im DTV Verlag. Silke Grundmann

Frans Emil Sillanpää im Guggolz Verlag
Frommes Elend
285 Seiten
24,00€
Hiltu und Ragnar
140 Seiten
18,00€
Vier Jahre nach "Frommes Elend" erschien 1923 der Roman "Hiltu und Ragnar" in dem Silanpää das Schicksal von Hiltu beleuchtet, Jussis schon aus dem ersten Werk bekannter Tochter, die im Hause einer Rektorenwitwe ihre erste Anstellung als Hausangestellte antritt. Mit einem Umfang von hundert Seiten unterscheidet sich diese Erzählung im Handlungs- und Spannungsbogen deutlich von "Frommes Elend". Ragnar, der Sohn der Witwe hat Gefallen an dem neuen Dienstmädchen gefunden, daher bedrängt er seine Mutter eine aufgeschobene Reise endlich anzutreten, um mit Hiltu einige Tage allein verbringen zu können. Die jungen Menschen bewegen sich aufeinander zu, für einen Augenblick scheint sich eine Liebesgeschichte anzubahnen, doch die unterschiedliche Herkunft fordert ihren Preis. Ragnar verstört in seinem Drängen Hiltu und schließlich führt eine unglückliche Fügung zum tragischen Ende. Sillanpää beweist in dieser Geschichte sein Geschick für die psychologische Beschreibung, ausführlich werden die Gedanken der Heranwachsenden geschildert, Ragnars Hoffnungen und Enttäuschungen, aber auch die Verwirrtheit Hiltus, ihre Ängste und schließlich ihre Verzweiflung. In der Diskrepanz der Gedankengänge von Hiltu und Ragnar wird die Dramatik ihrer Situation offenkundig, ein gutes Ende war schon von vornherein ausgeschlossen. So lässt sich der Roman als deutliche Gesellschaftskritik lesen, die die moralischen Verwerfungen im finnischen Volk anprangert. Äußerst lesenswert ist auch das Nachwort der Ausgabe, Sillanpääs Biograf Panu Rajala beschreibt kurz und präzise die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von "Hiltu und Ragnar". rb
Herbst 2015

Erika Tophoven: Godot hinter Gittern. Eine Hochstaplergeschichte
Verbrecher Verlag
1956 übergibt der Übersetzer Elmar Tophoven im Auftrag von Samuel Beckett einem fremden Mann einen Umschlag mit Geld. Einige Jahre zuvor hatte dieser Mann sich aus einem Gefängnis an Beckett gewandt: Er habe sein Stück „Man wartet auf Godot“ übersetzt und führe es im Gefängnis auf, nach seiner Entlassung wolle er es mit der „Spielschar der Landstraße“ in ganz Deutschland zeigen. Beckett ist begeistert, sucht nach Möglichkeiten KFL zu unterstützen, schickt ihm Geld und sorgt dafür, dass er Godot auf dem Evangelischen Kirchentag aufführen darf. Schließlich taucht KFL in Paris auf, versucht Beckett zu treffen. Dieser lässt ihm Geld zukommen, eben jenen Umschlag. KFL verschwindet auf Nimmerwiedersehen, hinterlässt nur einen Zettel: Paris sei ihm zu kalt, er gehe in den Süden. Erika Tophoven verfolgt die Spuren jenes KFL von seiner Geburtsstadt, quer durch Deutschland und Frankreich, bis sie sich schließlich an der Cote d’Azur verliert. Sie erzählt die unglaubliche Geschichte eines notorischen Betrügers und Hochstaplers, der seine Opfer – meist auch die Polizei – hinters Licht führen konnte, schließlich auch Samuel Beckett. KFL's Übersetzung von Godot ist leider verschollen geblieben. sd
220 Seiten
21€
Herbst 2015

ESTHER KINSKY. HAIN. GELÄNDEROMAN
Suhrkamp, 287 Seiten, €[D]24,- | €[A]24,70
Man kann sich dem Sog dieses Buches nicht entziehen, obwohl (und das sei hier nicht als Warnung, sondern nur als erläuternder Hinweis zu verstehen) es nicht wirklich eine Handlung gibt auf diesen fast 300 Seiten. Aber sind nicht gerade diese Bücher oft die herausragenden? Die Jury des Leipziger Buchpreises teilt erfreulicherweise diese Einschätzung.
Von drei Italienreisen berichtet die Ich-Erzählerin, Reisen zur Unzeit (Januar) in wenig arkadische Gegenden Italiens: eine Kleinstadt nordöstlich von Rom, die Lagunenlandschaft der Poebene und buchmittig angeordnet die Fahrten mit dem etruskerverliebten Vater in den Siebzigern, Erinnerungen an die Kindheit.
Die Ich-Erzählerin beschreibt, was sie sieht, erinnert, träumt. Es geht um Verlust, intensivste Trauer, Abwesenheitsnotizen, um eine Wiedergewinnung an Boden – oder sagen wir besser Augenhaftung. Präzision, Sinnlichkeit und Distanz prägen diesen Text. Und eben deshalb weisen viele Passagen über das Gesagte hinaus. „Hat es Sinn, auf eine Baumgruppe zu zeigen und zu fragen: 'Verstehst Du, was diese Baumgruppe sagt?' Im allgemeinen nicht; aber könnte man nicht mit der Anordnung von Bäumen einen Sinn ausdrücken, könnte das nicht eine Geheimsprache sein?“( Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, dem Roman vorangestellt). Esther Kinsky schickt eine Erzählerin aus, die sich Kraft ihrer unendlich differenzierten, stilsicheren Wortwahl einer Welt vergewissert, der man nicht verloren geht, weil man sie in Literatur verwandeln kann: Das ist das Tröstliche an diesem Buch. Die Lektüre ist eine Schule des Sehens. Mit bewundernswerter Könnerschaft schafft Esther Kinsky aus Worten Bilder äußerer und auch (sparsam) innerer Landschaften. Das Besondere an diesem Buch ist, dass es trotz einer so reichen und differenzierten Sprache ganz ohne Überhöhung und ohne jegliche Manierismen auskommt. Es ist sachlich, distanziert und trotzdem (oder gerade deshalb) anrührend und kostbar und weit entfernt von jedem Italienklischee. „Das Gelände lag roh im Tageslicht und trostlos bei Nacht, vielleicht sogar untröstlich über seine völlige Untauglichkeit – weder zur Landschaft noch zum Obdach wollte es sich eignen.“ Formal und stilistisch ein Meisterwerk von großer poetischer Kraft.
Silke Grundmann-Schleicher

Adam Zagajewski, Tomas Tranströmer, Philippe Jaccottet: Eine Olive des Nichts. Klangbilder von Burkhard Reinartz
ECM
Poesie und Musik sind Nachbarn, sagt Adam Zagajewski auf diesem Wunderwerk einer CD, die der Regisseur und Autor Burkhard Reinartz für das Münchner Plattenlabel ECM arrangiert, kompiliert, gewoben hat. Reinartz ist nicht nur ausgewiesener Kenner zeitgenössischer Lyrik, er kennt und schätzt auch die Klangkultur von ECM, die seit Jahrzehnten für die Aufhebung stilistischer Grenzen in der Musik und makellose Aufnahmetechnik steht. Aus diesem Archiv schöpft Reinartz und verbindet die Klänge mit den Texten dreier Meister der modernen Dichtkunst: Adam Zagajewski, Tomas Tranströmer und Philippe Jaccotetet. Dabei geht es ihm nicht um musikalische Illustrierung von Gedichten, sondern um ein „Amalgam verschiedener Sprachen.“ Die Musik von Arvo Pärt, Morton Feldman, Ketil Björnstad oder Steve Tibbetts, so Reinartz, „tritt zurück oder schärft ihre Konturen im dialogischen Spiel mit der Sprache.“
Entstanden sind Klanglandschaften von ungeheurer Intensität und berückender Schönheit; aus Worten und Musik wird eine Musik der Worte. Phantastisch. gw
78 Minuten
22,99€
Herbst 2015

FERNANDO ARAMBURU. PATRIA
Rowohlt, 768 Seiten, € [D] 25,- I € [A] 25,70
Spanien Ende der 50er Jahre – seit 1959 kämpft die baskische Untergrundorganisation ETA militant für ein unabhängiges „Euskal Herria“ – ein politisch souveränes Baskenland links und rechts der Pyrenäen. Der baskische Autor Fernando Aramburu hat dieser Zeit ein überragendes und fesselndes Epos um zwei befreundete Familien, um die Verschränkungen von Opfern und Tätern der ETA, um den zähen Überlebens- und Lebenswillen des Menschen, um perfide Mechanismen wie Manipulation, Denunziation und Folter in ideologisch extremen Zeiten gewidmet.
Über zwei Generationen verknüpft Aramburu die Ereignisse seines Romans und umkreist nicht-chronologisch den eigentlichen Kern des Geschehens um die Ermordung eines Unternehmers durch die ETA aus unterschiedlichsten Perspektiven. Kann und will die Elterngeneration nicht vergessen, ringt die nächste Generation um ein eigenständiges Leben, frei von emotionalen und tragischen Hypotheken der Eltern. Mit ausgesprochener Sympathie und Verständnis für jede seiner Figuren stellt er dabei besonders die Frauen ins Zentrum: sie sind trotzig, standhaft, karg bis extrem lebenshungrig, auch schrullig und störrisch bis zum Aberwitz. Nicht immer sind sie die Klügeren, aber häufig die „Überlebenden“. In Zeiten erneuter regionaler Unabhängigkeitsbestrebungen, Radikalisierung und ideologisch aufgeheizter Debatten um Identität und Territorien ein wichtiger und darüber hinaus literarisch großartiger Roman, der 2017 mit dem renommierten Premio Nacional de Narrativa geehrt wurde. Malcah Castillo

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969
Matthes & Seitz
Titel und Seitenzahl dieses Buches lassen den Leser ahnen, dass ihm die Lektüre einiges abverlangen wird. Läßt er sich aber darauf ein, macht ihn schon die fulminante Eingangsszene zur Geisel eines irrwitzigen Erzählunterfangens: Der 13jährige Titelheld wird zusammen mit Claudia und Bernd in einem NSU („Weil ein Song von Cream so heißt“) von der Polizei verfolgt, sie haben eine um die Ecke schießende Pistole dabei sowie andere verfängliche Gegestände aus Kaugummiautomaten. Sie entkommen und sehen am Abend im elterlichen Fernsehzimmer die Phantombilder der gesuchten RAF-Mitglieder. Und erkennen sich wieder.
Was ist wahr, erinnert, erfunden in diesem Roman? Ist es überhaupt ein Roman, mit seinem 14seitigen engbedruckten Register, von Adenauer (2 Eintragungen) über Beatles (geschätzte 60, zumal auf einzelne Songs extra verwiesen wird), Foucault (4), Glied (16), bis Zündplättchen (3). Jedenfalls umfängt den Leser sofort die bleierne Zeit der 60er Jahre in der hessischen Provinz, wo es überhaupt nicht swingt. Die Welt der Pubertierenden wird von Dualitäten bestimmt: Evangelisch oder katholisch, GeHa oder Pelikan, Beatles oder Stones, Märklin oder Fleischmann. Die Handlung changiert permanent zwischen Realität und Wahn, die Perspektive des kindlich assoziierenden Helden wechselt mit der des Erwachsenen, der sich in der Psychiatrie befindet und befragt wird: Von einem Arzt? Im Polizeiverhör? Im Beichtstuhl?
Nichts ist sicher in diesem überbordenden Werk , an dem Frank Witzel acht Jahre lang gearbeitet hat. Es ist ein phantastisches Fabulierfest geworden, das sich allen Vergleichen strikt verweigert.
Soviel ist dann doch sicher: Frank Witzel hat das mit Abstand ungewöhnlichste Buch dieses Jahres geschrieben.
Ein Solitär. gw
818 Seiten
29,90€
Sommer 2015

SZCZEPAN TWARDOCH. DER BOXER
Rowohlt Verlag, 462 Seiten, € [D]22,95 | € [A]23,60
In Tel Aviv sitzt Mojsche Bernstein/Inbar vor seiner Schreibmaschine. Er erinnert sich an das jüdische Warschau von 1937. Siebzehnjährig muss er miterleben, wie sein Vater von Jakub Shapiro verschleppt und getötet wird. Shapiro arbeitet für den „König“ der Warschauer Halbwelt, Jan Kaplica, treibt Schutzgeldzahlungen ein, mordet. Shapiro, ein Beau, ist nicht nur ein jüdischer Gangster, geachtet und bewundert in seinem Viertel, sondern auch der beste Boxer des jüdischen Clubs Makkabi. Er lädt Mojsche zu seinem Kampf gegen den besten rechtsnationalen Boxer des Clubs Legia Warszawa ein. Wie in einem Brennglas spiegeln sich in diesem Boxkampf und der ihn begleitenden Erregung der Zuschauer die politischen und sozialen Gegensätze zwischen jüdischem und polnischem Warschau. Shapiro nimmt sich des Waisen Mojsche an und führt ihn in die Warschauer jüdische Halbwelt ein. Man amüsiert sich ausgiebig, aber der politische Kampf zwischen dem linken, jüdischen Milieu und der nationalkonservativen, antisemitischen polnischen Gegenseite tobt, Raub und Mord sind an der Tagesordnung. Nach dem Tod von Jan Kaplica wird Mojsche zwei Jahre lang „König“ von Warschau. Er überlebt den Krieg. Viele der im Roman geschilderten Ereignisse sind tatsächlich passiert. Der Übersetzer Olaf Kühl erläutert im Nachwort die polnische Geschichte jener Zeit. Man sollte es zuerst lesen. Renate Georgi

Siri Hustvedt: Die gleißende Welt
Rowohlt
Siri Hustvedt ist eine amerikanische Schriftstellerin, die brillante Essays schreibt, eine Intellektuelle, die Romane von stupendem Esprit und sprachlich feinnerviger Intuition verfasst. In ihrem neuen Buch "Die gleißende Welt" werden wir Leser zu einem (literarischen) Experiment verführt, das am Ende die (Un)Wahrheit und Vorurteile des amerikanischen Kunstbetriebs entlarvt. Hustvedt stellt eine weibliche Künstlerpersönlichkeit, Harriett Burden, in den Vordergrund, die, klug, belesen, philosophisch versiert, sich nicht auf ein Identitätsmerkmal festlegen lassen will. Voreingenommene Zuschreibungen und Bewertungen über ihre Kunst will sie mit einer Täuschung offenlegen: Sie wird ihre Objekte und Installationen unter der Maske männlicher Kollegen zeigen, nur um schließlich nach Jahren ihre eigene Urheberschaft offenzulegen. Das riskante Projekt scheitert, und Harriet Burden muss die Erfahrung machen, dass die Kunstwelt, wenn man ihre Scheinhaftigkeit und narzisstischen Triebe outet, gekränkt zurückschlägt. Mitnichten geht es der Autorin Hustvedt aber darum, über einen immer noch von männlicher Wahrnehmung dominierten Kunst-(und Literatur-)markt feministisch zu reflektieren. Vielmehr veröffentlicht sie das facettenreiche, sinnliche Porträt einer Frau, die durch ihre Tagebuchaufzeichnungen, die Stimmen ihrer Freunde und Kritiker, die Worte des Geliebten und ihrer Kinder, vielschichtig skizziert wird. Für die Winkelzüge in ihrer Biografie, die Wandlung ihrer Handlungen, die verletzliche Seite ihrer Suche nach Anerkennung findet Hustvedt eine suggestive Sprache. Und unterstellt ihrer Protagonistin noch so manch gelehrte Fußnote, als wolle sie sagen, dass die Komplexität einer Persönlichkeit selbst mit den klügsten Worten nicht eindeutig und in Gänze zu erfassen sei. be
496 Seiten
22,95€
Sommer 2015

MARINA ACHENBACH. EIN KROKODIL FÜR ZAGREB
Edition Nautilus, 218 Seiten, € [D] 19,90 | € [A] 20,50
Als ein SA-Trupp an die Eisentür seiner Berliner Dachwohnung schlägt, flieht Ado von Achenbach aus Nazi-Deutschland zunächst nach Prag, dann weiter nach Jugoslawien, unter seinem Hemd ein kleines Krokodil. 1938 in Zagreb begegnet Ado der jungen Reporterin Seka: sie hat sich mit dem Emigranten zum Interview verabredet, weil er dem Zoo sein Krokodil schenken möchte. Diese Begegnung ist der Beginn einer großen Liebe.
In ihrem autobiografischen Roman Ein Krokodil für Zagreb erzählt die Journalistin Marina Achenbach die Geschichte ihrer Familie, verdichtet die Erinnerungen der Eltern und ihre eigenen in 120 Szenen. Dabei entsteht ein vielschichtiges, stimmungsreiches Bild aus persönlichen Erlebnissen und knapp skizzierten Gefühlen. Lebenswege, die bestimmt wurden durch die politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts.
Das Leben der beiden ist geprägt von vielen Brüchen und Wendungen: 1939 wird die Tochter Marina in Zagreb geboren, wenige Jahre später der Sohn Andreas; als die Wehrmacht einmarschiert, gehen sie nach Berlin, weil dort Ados Mutter Paula lebt. Bald flüchtet Seka mit den Kindern aus dem bombardierten Berlin nach Ahrenshoop, während Ado im KZ Leuna inhaftiert wird.
Nach Kriegsende lebt die Familie in der DDR: in Weimar verwirklicht Ado von Achenbach seinen Traum von einer Schauspielschule. Das Scheitern der Ehe, der plötzliche Tod des Vaters: 1957 zieht die Mutter Seka mit den Kindern nach München, wagt einmal mehr den Neuanfang.
Ein Krokodil für Zagreb ist ein wunderbarer, berührender Erinnerungsroman, der sich liest, als schlage man in Gedanken ein mit Fotografien prall gefülltes Album auf und blättere darin und blicke auf ein Jahrhundertleben – auf das der Mutter Seka.
Seka galt als begnadete Erzählerin, die Tochter Marina Achenbach setzt nun mit ihrem Buch auf hinreißende Weise die Familien-Tradition fort. Renata Seremet

Edith Pearlman: Honeydew
Ullstein
Wie kann es sein, dass wir bisher noch nichts davon wussten: Eine Schriftstellerin von unheimlicher Weisheit, eine Erzählerin in den Kleidern einer mal nüchternen, mal verzeihend zärtlichen Realistin, eine lustvolle Beobachterin – das ist Edith Pearlman. Endlich kann man die Kurzgeschichten dieser fast achtzigjährigen amerikanischen Ausnahmeschriftstellerin lesen und unumwunden den Worten ihres Verlegers zustimmen: „ Jedes Mal, wenn ich eine ihrer Kurzgeschichten zu Ende gelesen habe, fühle ich mich verstanden und versöhnt damit, dass ich ein Mensch bin". Die Menschen, und das wird in diesen 20 Geschichten so banal wie verblüffend klar, wollen einander lieben, sie sorgen sich, versuchen alles, um Garantien für ein halbwegs geglücktes Leben zu erhaschen. Und scheitern – weil sie sich sprach- und verständnislos gegenüber stehen, weil ihre Arglosigkeit nicht selten Oberflächlichkeit und Mutlosigkeit, „ein Ruch von Betrügerei" verrät. Und dann ist das Leben zu Ende: „ Dann würden sie aus der Geschichte entschwinden und alle ihre Ergänzungen und ihre Verlässlichkeit und Selbstverleugnung und Unzufriedenheit mitnehmen." Pearlman registriert das alles, wie eine Wissenschaftlerin ( Biologin, Anthropologin) zuweilen staunend auf diese seltsame Spezies Mensch blickt. („ Die Mutter: ein strenger Knoten, Zinn mit Bronze gemischt." „Er mochte Objekte von besonderer Schönheit wie die letzten rubinroten Tropfen in einer Flasche Hustensaft ...".) Und immer wieder unterläuft sie mit erzähltechnischer Finesse die Erwartungen, die man an den Verlauf einer Geschichte richtet, überrascht uns mit Wendungen, dass man ganz froh wird, weil der Mensch sich widersprüchlich, unerschrocken, unbezähmbar zeigen darf. Mrs. Pearlman weiß etwas über uns, das sie uns in dieser kristallin schönen Sprache beschreibt wie kaum eine andere Erzählerin. be
320 Seiten
20,00€
Sommer 2015

JEAN-MARIE BLAS DE ROBLÈS: DER MITTERNACHTSBERG
Ein kluger, kleiner Roman, unprätenziös und zurückhaltend erzählt von einem französischen Romancier, den es in Deutschland zu entdecken gilt. Schon 2012 veröffentlichte der Fischer Verlag einen üppigen Roman von gerade barocker Überfülle, der aber bis heute hier ein Geheimtipp ist („Wo Tiger zuhause sind“).
Im vorliegenden Roman ist die Erzählweise dem Thema entsprechend wesentlich asketischer. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, eine recht alter etwas zauseliger Hausmeister einer Jesuitenschule in einer Kleinstadt in Frankreich wird bekannt mit einer allein erziehenden jungen Frau aus seinem Hause und nach einigen Begegnungen und kleinen Ereignissen entschließen sie sich zusammen eine Reise nach Tibet zu unternehmen. Warum sie das tun und was ihnen dort widerfährt wird hier nicht erzählt, um die Freude und die Überraschung beim Lesen nicht zu verderben, nur soviel sei verraten: der alte Hausmeister hat sich sein Leben lang schon mit Tibet und seiner Kultur und Religion befasst und kann auch die Sprache sprechen. So wird der Aufenthalt für beide keine touristische Expedition, sondern für jeden ein tief existenzielles Erlebnis. Der Leser bleibt aber verschont von Kitsch und new-age-Geraune, sondern wird beschenkt mit einer lebensklugen Geschichte, die lange nachwirkt.
Am Ende enttarnt der Verfasser auch noch systematisch einige Mythen, die sich um das Thema einer angeblichen Verbindung zwischen Tibet und dem Dritten Reich ranken. Ausgezeichnet recherchiert. kp
176 Seiten
18 €

Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel
Fliegen, die Sprache der Vögel verstehen – dieser alte Traum zieht sich als Motiv durch den überaus kunstvoll gebauten, vielschichtigen, leisen Roman. Norbert Scheuer blendet die Grausamkeit des Krieges nicht aus, an einigen Stellen trifft sie den Leser mit enormer Wucht. Der Grundton des Buches aber ist ein poetischer. „Ich glaube nicht, dass Vögel allein zum Zweck der Fortpflanzung singen," notiert Paul in sein Tagebuch. „Irgendetwas existiert im Leben, das mehr ist als wir selbst und für das es keine Sprache gibt. Vielleicht liegt darin der Grund, dass Vögel singen."
gw

MELINDA NADJ ABONJI: SCHILDKRÖTENSOLDAT
42 €

Amos Oz: Judas
So der Beginn des neuen Romans Amos Oz' und schon hat er uns Leser eingefangen.
In diesem Winter gibt Schmuel Asch, 25 Jahre jung, sein Studium, das er mit einer Arbeit über Jesus aus jüdischer Sicht abschließen wollte, in Jerusalem auf. Seine Eltern können ihn nicht weiter finanziell unterstützen, die Freundin hat ihn verlassen, um einen früheren Freund zu heiraten. Schmuel denkt daran, die Stadt zu verlassen. Er bleibt, als ihm eine ungewöhnliche Aufgabe angeboten wird: Im Hause des alten, gebrechlichen, aber intellektuell vollkommen präsenten Gershom Walds wird er gegen Kost und Logis dessen nächtlicher Gesprächspartner und Vorleser und verliebt sich in dessen ebenso schöne, wie kühl kapriziöse und seelisch schwer verletzte Schwiegertochter Atalja Abrabanel. Wir ahnen es: Es wird eine ganz und gar unmögliche Liebe.
Der eigentliche Protagonist des Romans aber ist Judas Ischariot, der Archetypus des Verräters.
Der Verrat ist das zentrale Thema dieses Buches und nur ein Autor dieses Formats ist in der Lage, dieses Motiv so grandios und gleichzeitig unaufgeregt minimalistisch, drei Zimmer, eine Küche, drei Protagonisten, historisch, politisch und psychologisch zu öffnen.
Aber wer ist ein Verräter? Und was bewegt Menschen, andere, und nicht selten die engagiertesten, des Verrats zu bezichtigen? War Judas ein Verräter? Amos Oz gibt eine sehr kontroverse, ja provokante Antwort: " Nämlich, dass manchmal gerade der, den man einen Verräter nennt, der loyalste, liebevollste und treueste von allen ist." Und damit nicht genug: " Judas Ischariot ist das Tschernobyl des Antisemitismus.... Ich hatte das Bedürfnis, diese ganze Sache auf den Kopf zu stellen."
Amos Oz hat in diesem Roman die existentiellen Themen seines Landes und Volkes in eine atmosphärisch dichte und starke Geschichte verwandelt, die souveräne Parallelführung historischer und gegenwärtiger Themen und Motive lassen eines erkennen: dies ist Weltliteratur.
"Die hebräische Sprache ist mein einziges Zuhause," sagt Amos Oz. Danke, Miriam Pressler, dass wir Einlass finden.
Man wiederholt sich mit der Frage: Wann wird dieser Autor endlich in Stockholm gebührend für sein literarisches Lebenswerk geehrt? Geben wir die Hoffnung nicht auf, der Autor ist 75 Jahre jung.
sg
22,95€

PETRE M. ANDREEVSKI: QUECKE
24

Luftsprünge. Eine literarische Reise durch Europa Herausgegeben von Thomas Geiger.
"Dieses europäische Lesebuch möchte dazu beitragen, über reale aber auch über Sprachgrenzen hinweg, den Blick für diese Vielfalt zu öffnen."
Aber wie vermisst man diesen Kontinent? Geographisch, historisch, politisch, kulturell?
Halten wir uns an die Sprachen: 35 bekannte sowie unbekannte Autoren aus ebenso vielen Ländern sind mit Texten aus jüngerer und jüngster Zeit in diesem auch ästhetisch schön gestalteten Band versammelt und repräsentieren auf ihre Art diesen erst seit 25 Jahren wieder vereinten Kontinent. Ausgesucht wurden sie Beiträge einzig ihrer literarischen Qualität wegen: Colm Tóibín, Tomas Espedal, Davide Longo, Melinda Nadj Abonji, Georgi Gospodinov, Juri Andruchowytsch, Eva Menasse, Zsófia Bán und viele, viele andere laden uns ein, mitzukommen in die Lebens-, Gefühls- und Sprachwelten ihres jeweiligen Landes.
Über Europa kann man allerdings nicht erzählen, ohne und gerade auch von den großen Umbrüchen, schwierigen Übergängen, hohen Erwartungen und enttäuschten Hoffnungen zu sprechen. Auch davon zeugen diese Texte: erzählend, essayistisch, lyrisch, jeder von herausragenderer literarischer Klasse. Gegenwartsautoren haben es oft schwer, außerhalb ihrer Sprachgrenze wahrgenommen zu werden. Damit dies überhaupt gelingt, bedarf es der "stillen Helden des Literaturbetriebs: der Übersetzer, ohne die ein Projekt wie dieses unmöglich wäre."
Entstanden ist eine poetische und politische Vermessung Europas, eine Geländeermittlung und Positionsbestimmung. Das Buch möchte Neugierde erwecken auf Unbekanntes und neu zu Entdeckendes und Lust machen auf das (Weiter)Lesen, das Reisen und das Sprachenlernen. Es gilt,
den Blick für diesen großartigen Lebensraum zu schärfen. Das ist ausnahmslos gelungen.
sg
16,90€

MOYSHE KULBAK: MONTAG. EIN KLEINER ROMAN
edition.fotoTAPETA
In diesem „kleinen Roman", 1926 in jiddischer Sprache in Warschau erschienen, steckt ein ganz, ganz großer. Hier sitzt jeder Satz, kein Wort zu viel, keines zu wenig: präzise, expressiv poetisch, philosophisch und visionär. Der Autor: ein gänzlich Unbekannter. Das wird sich nun ändern. Sie sollten dieses Buch unbedingt lesen.
Wovon erzählt es? In seinem Dachstübchen sitzt der Hebräischlehrer Mordkhe Markus über seinen Büchern und liest und denkt nach und liest und denkt nach. Ein Büchermensch, ein Gelehrter, in Würde arm aber reich an philosophischem und pädagogischem Impetus, ein liebenswürdiger Humanist und ein empathischer Idealist. Vor seiner Tür, auf der Straße, findet nicht weniger als ein Weltbeben statt: Schüsse fallen, Menschen werden erschossen, leiden Hunger. Es ist die Zeit der Russischen Revolution.
Mordkhe Markus ist ein Denker, kein Träumer. Er ist durchaus für die Veränderung der Gesellschaft, allein es fehlt ihm bei all diesem kommunistischen Geschrei etwas Entscheidendes: Freiheit! Er will einfach im Stillen studieren und nicht mit lauten Parolen agieren. Die Sache geht für ihn nicht gut aus. Moyshe Kulbak (1886 - 1937) ist für mich die größte literarische Entdeckung des Jahres. Wir verdanken dieses Buch dem seit zehn Jahren unermüdlichen Agieren eines kleinen Berliner Verlages. Was für ein Schatz hier gehoben wurde, erkennet jeder Sprach- und Literaturliebhaber sofort. Selten ist mir die russisch-jüdische Welt so nah gekommen. Immer wieder schmerzt der Verlust einer so radikal unumkehrbar vernichteten, großartig reichen Kultur. Ein Nachwort der Übersetzerin von hohem Informationswert gibt Ihnen alles an die Hand, was Sie zum Verständnis dieses Buches und der Zeit, aus der es kommt, benötigen. Ein Glücksfall! Und sollten Sie Weiteres von Moyshe Kulbak lesen wollen, haben Sie dazu Gelegenheit: Ebenfalls gerade neu erschienen ist sein Roman "Die Selmenianer" im Verlag Die Andere Bibliothek. sg
111 Seiten
12,80€

Joseph Roth: Reisen in die Ukraine und nach Russland
Roth und Benjamin waren einander nicht sonderlich zugetan. Beim Lesen dieser Berichte wird aber deutlich, daß es eine Reise der Desillusionierung war. Gleichwohl sind Roths Beobachtungen von jener kristallinen sprachlichen Genauigkeit, die auch seinen Romanen und Erzählungen eigen ist. Ob es um Prostitution, Zeitungszensur oder das ärmliche Leben der russischen Bauern geht: immer ist eine vorurteilslose Einfühlsamkeit spürbar, die den heutigen Leser unmittelbar berührt.
Natürlich kann man das Buch nicht zur Hand nehmen, ohne an die gegenwärtige Entwicklung in Joseph Roths Geburtsregion zu denken. Und man liest: „Die Ukrainer, die in Rußland, in der Tschechoslowakei, in Rumänien vorhanden sind, verdienten gewiß einen eigenen Staat, wie jedes ihrer Wirtsvölker. Aber sie kommen in den Lehrbüchern, aus denen die Weltaufteiler ihre Kenntnisse beziehen, weniger ausführlich vor als in der Natur – und das ist ihr Verhängnis."
Textura heißt diese wunderbar gestaltete Reihe des Beck Verlags, in der Joseph Roths Reisenotizen erschienen sind. Textura heißt Gewebe, und treffender könnte der Name nicht sein für eine Sammlung, die sich um randständige Texte: von Sappho, Boccaccio, Kafka und Trakl über die Klassiker der Moderne bis in die Gegenwart, jeweils hervorragend kommentiert und graphisch exquisit ausgeführt (den vorliegenden Band eröffnet in der Klappbroschur eine Karte der Sowjetrepubliken um 1023).
Ein ornamentreiches Gewebe der Weltliteratur, an dem wir, lesend, mitwirken.
gw
14,95 €

ROBERT MENASSE: DIE HAUPTSTADT. ROMAN
Alle reden von Europa.Wer oder was ist denn dieses Europa? Hat es überhaupt eine Haupt-Stadt?
Brüssel gilt als Haupt-Sitz der Institutionen der Europäischen Union. Parlamentssitz ist Straßburg, der Europäische Gerichtshof liegt in Luxemburg. „Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.“ So das Motto des ersten Kapitels von Menasses Roman. Jedenfalls laufen in Brüssel alle Fäden zusammen, die von den unterschiedlichsten Akteuren aus 27 Staaten in den Händen gehalten, verknüpft, verknäult und manchmal wieder entwirrt werden müssen. So viele Sprachen, so viele Mentalitäten, so viele Charaktere, und sehr viel Persönliches fern der Heimat: Leid, Freude, Neid, Enttäuschung. Jeden Tag jagen sie ein neues Schwein durchs Dorf, genauer durch die EU-Länder. Mal sind es Vorschriften über die Krümmung von Gurken, andermal wird die Generaldirektion Kultur von der Generaldirektion Kommunikation beauftragt, das Ansehen der EU-Kommission aufzupolieren. Ihre Idee: ein Festakt zum Gründungs-Jubiläum unter dem Motto „ Nie wieder Auschwitz“. Schließlich lehrt die historische Erfahrung, formuliert vom Mitgründer der EU Jean Monet: „..Nationalismus führt zu Rassismus und Krieg, in radikaler Konsequenz zu Auschwitz.“ Aber das Projekt hat viele Tücken parat und Robert Menasse lässt mit wienerisch-jüdischem Humor die Handlungsstränge überraschende Wendungen nehmen. Dem Leser wachsen die handelnden Personen mitfühlend ans Herz. Hochaktuell. Selbst der Brexit wirft seine Schatten aufs Geschehen. Ein großes Lesevergnügen. js
459 Seiten
24,00€

Gila Lustiger: Die Schuld der Anderen
Marc Rappaport, Absolvent französischer Eliteschulen, der Vater ein jüdischer Intellektueller, die Mutter einer Wirtschaftsdynastie entstammend, schreibt als Journalist über Mord, Korruption,
Finanzskandale, was von seiner Familie heftig missbilligt wird.
Für seine Zeitung soll er einen kurzen Bericht schreiben über einen 27 Jahre zurückliegenden Mord an einer jungen Prostituierten. Der Täter wurde durch eine erst jetzt mögliche DNA-Analyse überführt. Marc sieht das Foto des Beschuldigten, ein unauffälliger Familienvater aus der Provinz.
Zuerst möchte er nur ergründen, ob und wie eine so lange verborgene Tat einen Menschen verändert. Es gelingt Marc auf nicht ganz offiziellem Weg, mit dem Beschuldigten zu sprechen: Danach ist er überzeugt, daß dieser Mann nicht der Mörder sein kann.
Er beginnt, wie immer wenn ihn ein Thema gepackt hat, besessen zu recherchieren. Er reist in die kleine Provinzstadt in Lothringen aus der Opfer und Täter stammen, in ein früher wohlhabendes Industriegebiet Frankreichs, wo die Menschen heute um die verbliebenen Arbeitsplätze fürchten.
Kaum einer in der Stadt will mit ihm sprechen. Mühsam gelingt es ihm, das große Schweigen nach und nach aufzubrechen. Dabei kommt er einem die ganze Region beherrschenden Chemieskandal (den es wirklich gab) auf die Spur und kann beweisen, dass der Beschuldigte nicht der Mörder ist.
Auch er bekommt am Ende eine Antwort, auf die er nicht gefasst war: Seine Familie ist in die Skandale verwickelt. Marc fragt sich, wie schuldig auch er ist, der jahrelang über die Schuld der Anderen geschrieben hat und dabei blind für sein eigenes Umfeld war.
Ein sehr spannender, kenntnisreicher und kluger Roman über nicht nur französische Verhältnisse. rg
22,99€

Thomas Wolfe: Von Zeit und Fluss
Eugene Gant, dessen Kindheit Thomas Wolfe in „Schau heimwärts, Engel" erzählt, macht sich zu Beginn des großen Romans „Von Zeit und Fluss" auf den Weg nach Harvard: ein Schritt aus der Familie heraus in ein neues Leben, aber auch aus dem konservativen Süden der USA in den sagenhaften, fortschrittlichen und modernen Norden. Von dort wird Eugenes Weg weiterführen in das New York der 20er Jahre und schließlich nach Paris. Wolfes Buch ist die großartige Geschichte einer Jugend, der Entwicklung einer Persönlichkeit, die um ihre Unabhängigkeit in einer turbulenten Welt kämpft. Im rhythmischen Wechsel aus Überschwang und Verknappung erzählt Wolfe ein Leben, das sich voller Hoffnung und Erwartung der Welt öffnet, das niemals ruhen sondern alles erfahren will. „Von Zeit und Fluss" ist nicht nur Bildungsroman; es ist vielleicht das, was dem Projekt der „Great Amrican Novel" am nächsten kommt: ein ausuferndes, faszinierendes Portrait eines fast schon mythischen Amerikas, das keinen Leser unberührt lassen wird. sd
39,95 €

Iwan Bunin: Vera
Dörleman.
Iwan Bunin, den ersten russischen Nobelpreisträger und letzten Klassiker der Generation um Tschechow und Tolstoi, muss man den deutschsprachigen Lesern nicht mehr vorstellen: Seit dem Erscheinen des Bandes „Ein unbekannter Freund" 2003 kümmert sich der kleine und feine Dörlemann Verlag kontinuierlich um die Erschließung dieses grandiosen Erzählwerks. Inzwischen liegt mit „Vera" der siebente Band dieser verdienstvollen Werkausgabe vor, und wieder ist man benommen von der sinnlichen und detailversessenen Schilderung des russischen Landlebens zur Zarenzeit. In den fünf Erzählungen, 1912 entstanden, geht es um scheiternde Träume, erkaltende Liebe und um den Versuch, zu Fuß die Sonne zu überholen.
Das Bändchen ist, wie von diesem Verlag gewohnt, mit großer handwerklicher Sorgfalt hergestellt, den blauen Leineneinband ziert ein Bild von Kasimir Malewitsch, das in seiner lichtdurchfluteten Farbigkeit mit den Erzählungen korrespondiert: ein Buch, das den Sinnen schmeichelt. gw
160 Seiten
21.90 €

Sabrina Janesch Tango für einen Hund
Für Ernesto Schmitt, den siebzehnjährigen Protagonisten aus Sabrina Janeschs drittem Roman, sollte das Leben gerade so richtig beginnen: Der öden Lüneburger Heide wollte er den Rücken kehren, nach Südamerika aufbrechen und mit einer „knallharte[n] Doku" zurückkehren, die ihm den ersehnten Platz an der Filmhochschule seiner Wahl sichern sollte. Soweit die Theorie. In der Praxis begegnet dem Leser ein resignierter Ernesto, dessen Ziel in unerreichbare Ferne gerückt ist, weil dieser für einen fremd verschuldeten Brand 200 Sozialstunden aufgebrummt bekommt. Den Leser erwartet folglich keine knallharte Doku Südamerikas, sondern eine Einführung in den Lüneburger Oikos der Familie Schmitt. Nach diesen interessanten wie amüsanten Schilderungen des Adoleszenten nimmt die Geschichte jedoch rasch an Fahrt auf, dem glaubwürdigen Charakter Ernesto Schmitt wird sein ebenso eigensinniger wie liebenswürdiger Onkel Alfonso Schmitt y Camba mitsamt gleichsam eigensinnigem doch weniger liebenswürdigem uruguayischen Hirtenhund namens Astor Garcilaso de la Luz y Parra zur Seite gestellt. Das für Leser und Ernesto in gleicher Weise zunächst etwas unglaubwürdige Duo aus Südamerika wirkt jedoch als Zünglein an der Waage und kurz darauf sitzt das holprige Dreiergespann im nicht minder holprigem Fiat Panda – Kosename „Möhre" – auf dem Weg Richtung Hundeschau in Bad Diepenhövel und auf der Flucht. Ernesto und Alfonso werden zu Gesetzlosen und die Lüneburger Heide zum Wilden Westen, vermeintliche Feinde entpuppen sich als Freunde, junge Hirten werden zu weisen Einsiedlern. Sabrina Janesch führt die Handlung mehrmals an den Rand des Absurden, doch ihr Geschick für Komik einerseits und das rührende Verhältnis von Neffe und Onkel, Alt und Jung andererseits, machen den „Tango für einen Hund" bis zuletzt lesenswert. Tschick-Leser werden es mögen. rb
19.95 €

Jakob Arjouni: Die Kayankaya-Romane
29.90 €

Hans Zischler: Das Mädchen mit den Orangenpapieren
Marie lebt mit ihrem Vater allein. Sie sind neu in der Gegend, aus Dresden zugewandert.
Die Welt hat sich noch kaum vom Krieg entfernt, Entbehrungen allerorts, Lebenshunger auch. Alles scheint leicht in diesem Buch. Ernst- und dauerhafte Freundschaften werden wie nebenbei geschlossen, Lehrer sind, was sie sein sollten, nämlich verständnisvoll, fördernd, weltoffen, verlässlich und aufgeschlossen und Kinder werden ernst genommen in ihren Bedürfnissen und ihrer Freude, sich dem Leben zuzuwenden.
Orangenpapiere (wer kennt sie noch?), diese zarten, feinen, luftigen, kleinen Hüllen schützen eben nicht nur kostbare Südfrüchte, sie erzählen uralte Geschichten und manchmal führt das dazu, dass die Phantasie sich aufmacht, schwebend leicht und grenzenlos. Marie jedenfalls ist zu beneiden. Und der Leser, der diese Lektüre noch vor sich hat, ebenfalls. sg
16.99 €

Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens.
17.95 €

Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand.
Dass bei der Lektüre dieses Buches über zwei Depressive der Leser nicht selbst vom schwarzen Hund angefallen wird, dafür sorgt die raffinierte Erzähltechnik Köhlmeiers. Er setzt nämlich einen äußerst unzuverlässigen Erzähler ein, dem man keinesfalls jedes Wort glauben sollte, zumal er oft aus recht dubiosen Quellen zitiert. Dies aber so überzeugend, dass man auch weiterhin an einen Essay mit dem Titel „Die Methode des Clowns" aus der Feder Adornos glauben möchte. Und schließlich wird Ihnen ein sicheres Mittel gegen Depression mitgeteilt, wie es schon Churchill praktizierte: Sie legen sich nackt auf ein großes Stück Papier und...
Aber lesen Sie selbst! gw
17.90 €

Raja Siekkinen: Wie Liebe entsteht.
"Ich kannte ihn schon, als er sich von seiner Familie trennte, und auch, als er sich von der Frau trennte, wegen der er seine Familie verlassen hatte." Oder: "Wir waren vier, und alle schon einmal geschieden. Wir saßen am dunkelroten Küchentisch und tranken."
Ein trauriges, sehr schönes (auch gestalterisch: feines blaues Leinen, Prägedruck) und sehr bewegendes Buch. Zehn Geschichten, die wie zehn Romane nachhallen, nicht mehr, nicht weniger. sg
16.90 €

Daniel Schreiber: Nüchtern
Daniel Schreiber gebührt große Anerkennung, dass er das Thema Trinken ganz nah zu uns holt, dass er sich mit viel Kraft und Ausdauer und ganz ohne Betroffenheitskult den Schatten gestellt hat, die Alkohol bewirken kann. Dem Klischee des Alkoholikers auf der Parkbank oder einer betrunkenen Jenni Elvers, stellt er einen ganz alltäglichen Menschen gegenüber, der süchtig wird: sich selbst. Daniel Schreiber hat einen scharfsinnigen Stil, er ist nie belehrend und immer aufrichtig. Diese Aufrichtigkeit und sein unverstellter Blick auf den eigenen Selbstbetrug, wie es ist, sich als Alkoholiker zu outen und vor allem nüchtern zu bleiben in einer Gesellschaft in der der Satz „Ich trinke nicht" verdächtig beäugt wird, machen dieses Buch absolut lesenswert. Ein Buch mit Happy-End und Ja! - auch für den Gabentisch, selbst wenn der Champagner bereits appetitlich im Glas perlt. tf
16.90 €

Ulf Erdmann-Ziegler: Und jetzt du, Orlando!
18.95 €

Aharon Appelfeld: Auf der Lichtung
Rowohlt Verlag
Aharon Appelfeld ist 1932 in Czernowitz geboren, im Alter von acht Jahren wurden seine Eltern umgebracht, er selbst in ein Lager verschleppt, aus dem er fliehen konnte. Er überlebt den Krieg in den ukrainischen Wäldern und als Küchenhilfe bei der Roten Armee, gelangt nach dem Krieg nach Palästina, erlebt die Gründung des Staates Israel und ist heute einer Ihrer berühmtesten und größten Schriftsteller. Ja, Sie haben recht: Das kann man sich kaum vorstellen, aber, es ist unsagbar wichtig, immer wieder an diese Dinge erinnert zu werden, sie sich erzählen zu lassen.
Das Trauma wird zum Überlebenstext und dieser ist so wahrhaftig wie zeitlos gültig, weil von einem geradezu biblisch hohen Ton und, fast traut man sich das Wort in diesem Zusammenhang nicht auszusprechen, klaren Schönheit.
In seinem neuen Roman „Auf der Lichtung", erzählt aus der Ich-Perspektive des siebzehnjährigen Gymnasiasten Edmond, schildert dieser das Leben, Kämpfen und Zusammenhalten einer Gruppe jüdischer Partisanen (vom Kind bis zur Greisin) in den Nordkarpaten zwischen 1942 und Kriegsende. Bis auf den Anführer scheint niemand an Gott zu glauben, aber wie schafft man es in einer solchen Situation nicht aufzugeben, zuallererst sich selbst?
Wie bezwingt man die „düsteren Gedanken"? Das große Wort, das alles wenden kann, selbst in einer Welt des Grauens, heißt: MENSCHLICHKEIT. Es lässt selbst hier noch Geborgenheit, Zusammenhalt, Hoffnung und den Glauben an eine Zukunft zu. Im Mittelpunkt des Romans steht Kamil, der Anführer der Gruppe, der selbst in dieser Welt des nackten Überlebens fest an so etwas wie „Kultivierung des Herzens" glaubt.
Appelfelds Kunst ist es, dies alles ohne Sentimentalität oder falsches Pathos, hoch literarisch zu erzählen, er verharmlost nichts und schafft das, was nur die besten Autoren können: mit einfachen Worten hinabreichen in eine Tiefe, da, wo man sonst eher selten berührt wird.
Nicht alle werden das Kriegsende auf dem Gipfel eines Berges, auf den sich die Gruppe aus strategischen Gründen zurückgezogen hat, erleben, und Edmunds Worte am Ende: „Tief in mir fürchte ich mich vor dem Abstieg." lassen ahnen, dass nichts zu Ende ist, niemals.
Ein Buch für jede Generation. sg
320 Seiten
19.95€

Ludwig Laher: Bitter
Es ist im wahrsten Wortsinn eine "bittere" Geschichte, die der österreichische Schriftsteller Ludwig Laher in seinem Roman "Bitter" schildert. Er handelt vom Lebensweg des für seine Brutalität und berechnende Grausamkeit bekannten Gestapo-Chefs der Wiener Neustadt und Massenmörders von Charkow.
In Anbetracht des Themas überrascht einiges an diesem schmalen, klugen Buch: Laher versucht nicht, die Psyche seiner Friedrich (Fritz) Bitter benannten Hauptfigur zu ergründen oder dessen Handlungsweisen nachzuvollziehen. "Bitter ist das gewissenhaft zusammengetragene Produkt von Dokumenten und Zeugnissen". Laher nimmt sich dabei die Freiheit, Fiktion und Wirklichkeit nebeneinander zu stellen. Als Erzähler formuliert und kommentiert er salopp, ist parteiisch, vor allem aber satirisch-sarkastisch im Tonfall.
Zum einen liegt in dem dadurch ausgelösten Lachen Befreiung vom Grauen der geschilderten Ereignisse, zum andern läßt dieses bittere Lachen Autor und Leser nicht in Betroffenheit und Ohnmacht verfallen. Es ermöglicht ein Umgehen, auch mit den noch folgenden Unzumutbarkeiten der Realität: Bitter hat im wirklichen Leben, bis zu seinem Tod Ende der fünfziger Jahre, mit seiner Argumentation, stets nur Befehlsempfänger gewesen zu sein, äußerst gut und mit ruhigem Gewissen gelebt.
Ludwig Lahers Re-Konstruktion dieses spießbürgerlich durchschnittlichen Lebens eines Dr. Fritz Bitter ist in jeder Hinsicht an- und aufregend! Dem Wallstein Verlag sei auch für die sehr gelungene Gestaltung des Titelbildes gedankt.mc
19.90€

Gaito Gasdanow: Ein Abend bei Claire
1930 erschien im Pariser Exil dieser erste Roman Gaito Gasdanows. Da war er 26 Jahre alt und teilte das Schicksal seines introvertierten, feinnervigen Romanhelden Kolja Sosedow. Mit 16 Jahren kämpfte dieser freiwillig mit der Weißen Armee im russischen Bürgerkrieg auf einem Panzerzug. Nicht weil er an deren Sieg glaubte, er ging in den Krieg „ohne Überzeugung, ohne Enthusiasmus, einzig aus dem Wunsch, im Krieg neue Dinge zu erblicken und zu begreifen, die mich vielleicht zu einem anderen Menschen werden ließen."
Der Tod und die Liebe sind die Pole dieses Romans. Der frühe Tod des Vaters und zweier Schwestern haben Koljas „seelischen Tastsinn" narkotisiert, seine unglückliche Liebe zu Claire seine innere Katastrophe besiegelt. Er überlebt alle Angriffe auf Leib und Seele und findet Claire Jahre später in Paris wieder. Eine Liebesnacht wird zur „Suche nach der verlorenen Zeit".
Gasdanows Prosa ist Musik. Gasdanows Prosa ist Intensität. Gasdanows Prosa ist Schmerz.
Gasdanows Prosa ist das reinste Glück.
Und Claire? Ein Traum?
Man muss dieses Buch lesen, zweimal, dreimal, immer wieder. Es ist eine der radikalsten und wuchtigsten Leseerschütterungen dieses Frühjahrs. Ganz große Weltliteratur! sg
17.90€

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther
hr Urgroßvater Ozjel leitete eine Taubstummenschule wie viele der Geschwister und Nachkommen. Mit Hilfe eines einfachen
Stiftes ließ er die Kinder „spü Katja Petrowskaja, in Kiew geboren in eine jüdisch/sowjetisch/russische Familie - nur wenige Mitglieder sitzen noch am Familientisch.
„Vielleicht Esther" ist kein Familienroman, es sind Geschichten,in denen Katja Petrowskaja auf Vergangenheits- und Erinnerungssuche geht, Wörter werden zu Wegweisern „wie viele Jahre steckten diese Sätze in mir bis ich sie hörte", fragt sie sich. Haarnadeln der Großmutter, ihre im hohen Alter und schon fast erblindet hingekritzelten, übereinander geschriebenen Blätter werden zum Ariadnefaden des Erinnerns. Katja Petrowskaja recherchiert, sucht in Archiven, Listen, Suchmaschinen, sie reist nach Warschau und Auschwitz, Linz und Mauthausen, zur verschütteten Schlucht von Babij Jar bei Kiew, um die Lücken zu füllen. Katja Petrowskaja, deren Muttersprache russisch ist, kam mit ihrem Mann 1999 nach Berlin, sie schreibt deutsch, ihre Sprache ist leicht, bildhaft, manchmal ironisch, hellhörig für versteckte Bedeutungen, den so nie gedachten zweiten, anderen Sinn eines Wortes.
Sie wird sehr konkret und dokumentarisch wenn sie die Verkaufskioske vor den Toren von Auschwitz beschreibt oder ihren Weg nach Babij Jar. Iren, wie aus der Zunge Sprache entsteht." Für seine Urenkelin ist Sprache, deutsch, zur Wünschelrute für ihre Suche geworden, mit ihr gibt sie den Verschwundenen Gesicht und Geschichte und uns einen besonderen Blick auf ein verschweigendes Jahrhundert. rg
19.95€

Anthony McCarten: funny girl
Azime ist eine junge, moderne, emanzipierte Londonerin. Soweit das eben möglich ist, wenn man als Zwanzigjährige noch bei seinen Eltern wohnt, die einzige Tätigkeit, die man ausüben darf ein langweiliger Bürojob im väterlichen Möbelgeschäft ist und die Familie einen potentiellen Ehemann nach dem anderen präsentiert, damit man nicht als alte Jungfer endet.
Durch Zufall entdeckt die eigensinnige junge Kurdin in der Stand-up-Comedy-Szene ein Sprachrohr für sich; schnell erlangt sie als neue „Sensation" einige Aufmerksamkeit. Doch nicht nur ihre eigene traditionell eingestellte Familie fühlt sich von ihren Auftritten provoziert; bald erreichen Azime erste Morddrohungen...
Mitreißend und voller Empathie schildert McCarten den Kampf seiner liebenswerten Heldin um Eigenständigkeit und Emanzipation. Er führt dem Leser die alltägliche Realität und Paradoxie muslimisch geprägter Parallelgesellschaften in modernen Großstädten vor Augen, wobei auch die Themen „Ehrenmord" und Terroranschläge nicht ausgespart bleiben.
In diesem hochpolitischen Roman wird auch ganz nebenbei eines deutlich: Die Kraft des Humors könnte so manch fest betonierte Diskussion lockern und auf neue Wege führen.
Fesselnde Lektüre, die nachwirkt!! mf
21.90€
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Richard Yates |
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Donna Tartt |
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Siri Hustvedt |
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A. M. Homes |
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Ernst Piper
592 Seiten |
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Stefan Wolle Stefan Wolle schreibt unakademisch und seine Bücher sind gespickt mit kleineren Geschichten, die jeweils symptomatisch sind für ihre Zeit. Das heißt, Wolle verbindet Alltagsgeschichte, Kulturgeschichte, Sozialgeschichte und politische Geschichte auf originelle Weise. Diese drei Bände gehören zum Besten, was es an Literatur über den SED-Staat gibt. Stefan Wolle ist ein schwungvoller Geschichtserzähler. Er lässt wissen und spüren, schreibt Geschichte von oben wie von unten, mit sarkastischem Sinn für die Bauchklatscher der Ideologie. 1360 Seiten
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Paul Auster
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Peter Bieri
384 Seiten |
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Taiye Selasi 400 Seiten |
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Hannah Arendt 464 Seiten |
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Per Olov Enquist |
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Manfred Geier |
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John Williams |
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Anne Applebaum
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Tanja Langer |
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Thomas Brasch Was für ein Buch: mit knapp einem Kilo liegt es nicht eben leicht in der Hand. Aber leicht hat es dieser 2001 mit 56 Jahren verstorbene Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Übersetzer sich und anderen nie gemacht, wie unlängst auch in Marion Braschs bewegendem Familienroman „Ab jetzt ist Ruhe“ nachzulesen war. – Nun liegt Thomas Braschs lyrisches Werk in einem Band vor. Er umfasst nicht nur die bislang erschienenen, zum Teil längst vergriffenen Bände (darunter das legendäre „Poesiealbum“, seine einzige Lyriksammlung in der DDR), sondern auch eine Vielzahl verstreut gedruckter Gelegenheits- und Widmungsverse, etwa an seinen ebenfalls viel zu früh verstorbenen Bruder Peter oder an seine langjährige Gefährtin Katharina Thalbach. Vor allem aber haben die Herausgeberinnen Martina Hanf und Kristin Schulz Hunderte von Gedichten aus dem umfangreichen Nachlass erstmals in den Druck gegeben. Und schmerzhaft wird deutlich, wie sehr diese Stimme fehlt. Die zornige, schroffe, an den Leitsternen Rimbaud und Bob Dylan geschulte. Die leise, zärtliche: nicht wenige der Liebesgedichte haben das Zeug zum Volkslied. Mehr als 1000 Seiten Brasch und keine einzige zu viel: was für ein Buch. gw
1029 Seiten
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Uwe Timm „Es war ihr Blick, überrascht, in dem er sich wiederfand.“ „Der glückhafte Augenblick“, wie er ihn später, auf der einsamen Insel in der Elbmündung, Vögel im Dienste der Natur klassifizierend und Angeschwemmtes aufsammelnd, erinnert, währte nicht lange. Christian Eschenbach und Anna, beide in glücklicher Beziehung oder Ehe lebend, haben ihm, dem Blick, nicht widerstanden, wider besseres Wissen, gegen alle Vernunft. Und so erfahren wir in diesem Roman von der lust- und leidvollen Geschichte zweier Paare, dieam Ende als solche nicht mehr existieren. Eschenbach stürzt tief, das allerdings mit erstaunlicher Gelassenheit: er ist am Ende allein, arm aber glücklich und sich an das gestohlene Glück erinnernd.
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Clarice Lispector Clarice Lispector (1920–1977) bezeichnet man gerne als die brasilianische Virginia Woolf. Sie braucht diesen Vergleich weder zu scheuen, noch ist sie auf ihn angewiesen. Ihr Debütroman »Nahe dem wilden Herzen“ (1943) erzählt Joanas Geschichte: Joana, erst Mädchen, dann junge Frau ist immer wieder bemüht, ihr Inneres mit einem absurd wirkenden Außen in Einklang zu bringen und doch sie selbst zu bleiben. Das Außen, das ist der Vater, der niemals Zeit hat. Die Mutter ist nur eine rätselhafte Erinnerung und die matronenhafte Tante ist schockiert von ihrer geistigen Freizügigkeit: Der Ehemann, der von ihrer geistigen Wildheit fasziniert ist, aber nur bei seiner Geliebten Ruhe findet. Das ist die Welt, in der Joana sich bewegt, doch die eigentliche Handlung findet in ihrem Inneren statt und beschreibt den Weg zu ihrem eigenen „wilden Herzen“.
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Nickolas Butler 432 Seiten
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Philippe Descola ab Oktober 2013 erhältlich 144 Seiten |
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Ernst Haffner HÖRBUCH . Gelesen von Ben Becker auf 5 CDs. Argon Verlag € 19,95 Jugendliche ohne Arbeit und Wohnung, die aus sadistischen Fürsorge-Heimen in den Dschungel der Großstadt fliehen. Jugendbanden, die von Gelegenheitsarbeit, Diebstahl und Prostitution leben, stets auf der Flucht vor Polizei und Justiz. Ernst Haffner, Journalist und Sozialfürsorger lebte zwischen 1925 und 1933 in Berlin. Seither ist er verschollen. Sein Buch „Die Blutsbrüder" erschien 1932 und wurde von den Nazis verbrannt. Dieser Roman, jetzt wiederentdeckt, ist eine spannend realistische Sozialreportage mit viel Empatie für „Die da ganz unten" und mit kritischem Blick auf die dekadente Schikeria „da oben". 260 Seiten
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Erich Kästner ab Oktober 2013 erhältlich |
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Hans Pleschinski |
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Armin T. Wegner
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Henry James The Diary of a Man of Fifty, so der Titel der Story, ist noch nie auf Deutsch erschienen. Anlage und Szenerie des Werks sind für den Autor geradezu klassisch: Ein Amerikaner kehrt nach Jahrzehnten in das geliebte Florenz zurück, an jenen Ort, wo er als junger Mann einst Bekanntschaft mit der Kunst und mit dem Leben gemacht hat. Die wehmütige Erinnerung an eine Jugendromanze mündet in ein überraschendes Déjà-vu, nicht zuletzt dank alter, längst erloschen geglaubter Gefühle… Eine wunderbare Rezension von Hubert Spiegel (FAZ) finden Sie hier: FAZ |
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Roberto Bolano 272 Seiten
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Teju Cole Julius, ein junger afroamerikanischer Psychiater aus Manhattan, durchstreift nach Dienstschluss die Topografie New Yorks. Eines Tages geht er einfach drauf los, ohne festgelegtes Ziel. „Kontrapunkte zum Arbeitsalltag", sieht der Liebhaber klassischer Musik in seinen Spaziergängen. Er stellt fest, dass sie seine Abende als auch seine Gedanken strukturieren. Er lässt sich treiben, und gleitet zunächst auf eine unbefangene Art durch eine Fülle von Assoziationen, die seine Beobachtungen und Begegnungen auslösen. Er denkt an seine kürzlich zerbrochene Liebesbeziehung, wartet mit Beispielen aus der Kunstgeschichte auf, fühlt sich an ein Gemälde von Velázquez erinnert, wo andere nur die Spiegelung einer Fassade erkennen. Vor seiner medizinischen Ausbildung studierte Julius englische Literatur. Aus jener Zeit datiert seine Freundschaft zu dem alten Professor Saito, den er gelegentlich aufsucht. Der Gedankenflug mit diesem väterlichen Intellektuellen , der dem Tod entgegenblickt, berührt Julius sehr und beleuchtet seine mitfühlende Seite. Daneben kreuzen Unbekannte Julius' Weg, ein illegaler Immigrant, ein karibischer Schuhputzer, ein Postbeamter, ein Museumswärter, farbige Männer, deren Geschichten die Benachteiligung und Vorurteile gegenüber den Schwarzen offenlegen. Julius geht einmal zu einem Konzert von Mahlers 9. Sinfonie in die Carnegie Hall und bemerkt, dass fast alle um ihn herum weiß sind. Es erinnert ihn daran, wie „getrennt unsere Leben immer noch sind". Der Protagonist steht in der Tradition des Flaneurs, des unabhängigen, intellektuellen, introvertierten Erzählers, der uns an die Orte der Gegenwart der Geschichte führt. Julius sieht Dinge, die andere übersehen, die ignoriert werden. Die Stadt New York blättert sich vor ihm auf, offenbart die Spuren der Menschen, die früher hier lebten. Mit jeder Begegnung, jeder neuen Entdeckung gerät Julius tiefer hinein in die verborgene Gegenwart New Yorks. „ In dieser Erde waren die Leichen von fünfzehn‐ bis zwanzigtausend Schwarzen, die meisten davon Sklaven, bestattet worden." Der Roman ist im Jahr 2006 angesiedelt, und natürlich handelt er auch von den Auswirkungen des 11. Septembers. Teju Cole beschreibt dieses andere New York und die darin verwobenen Menschenschicksale in einer klaren, detailgenauen Sprache, deren Rhythmus einen Sog erzeugt. Der Autor hat mit seinem Held Julius eine realistisch aussehende Figur geschaffen, einer von uns, der in einer Sprache über Geschichte, Verlust und Mitgefühl spricht, die wir verstehen. Zugleich ist er nicht nur der unschuldige Beobachter, ein Vorfall aus seiner jüngeren Vergangenheit offenbart seinen sehr ambivalenten Charakter. Hinter der brillant erzählten Geschichte wird ein Unbehagen an der Kultur und der zerrissenen Gegenwart spürbar, das den Spurensucher Julius zum Auffinden verdrängter Erinnerungen und Abgründe befähigt, auch solche in seiner Biografie. Jetzt ist Teju Cole und seine Übersetzerin Christine Richter‐Nilsson mit dem Internationalen Literaturpreis/ Haus der Kulturen der Welt ausgezeichnet worden. Die Jury erklärt, dass Cole „ein überragendes Erzähldebüt gelungen ist". 333 Seiten |
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Jonas Lüscher
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Henning Ritter |
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Ulrike Edschmid „Eine Handleserin in Zürich hatte ihm vor Jahren prophezeit, dass sich sein Leben vollenden werde, bevor er dreißig sei. Aber auf welche Weise, hatte sie gesagt, liege in seiner Hand." Philip S., Sohn einer begüterten Schweizer Fabrikantenfamilie, stirbt 1975 , durchsiebt von Polizeikugeln, am Rande eines Kölner Parkplatzes. Ein paar Meter entfernt liegt ein junger Polizist tot auf dem Pflaster. Philip S. war Mitglied der terroristischen Gruppe „Bewegung 2. Juni". Flüchtend hat er den Polizisten erschossen. Wie ein Vorlauf zu einem Krimi beginnt dieses Buch. Es folgen 28 chronologisch erzählte Kapitel, sprachlich dicht, nüchtern reflektierend, präzise, hoch sensibel wie der Protagonist. Mit einer Distanz von 40 Jahren sucht Ulrike Edschmid noch immer eine Antwort auf die Frage: Warum wählte Philip S. diesen Weg in den terroristischen Untergrund? Was hat sie selbst davor bewahrt, ihrer großen Liebe auf diesen Weg zu folgen? Ganz klar, knapp und ehrlich gibt sie die Antwort. (Sei hier nicht verraten.) Wir haben es mit einem autobiographischen Roman von großem zeitgeschichtlichen Wert und dokumentarischem Charakter zu tun: sachlich erzählt und doch hoch emotional. Wie kann ein geliebter Mensch einem so entgleiten? Wer die Zeit nach dem 2.Juni 1967 in Berlin miterlebt hat, erkennt sofort die handelnden Personen, auch wenn sie nur mit Initialen gekennzeichnet sind und erinnert sich an die Ereignisse. Den jüngeren Lesern sei dieses Buch empfohlen als Schilderung eines Irrwegs und Lebensgefühls eines Teils der 68-er Studentengeneration.js
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Tony Judt Es ist ein besonderes Buch. Nicht nur, weil das Manuskript von „Nachdenken über das 20. Jahrhundert" von Tony Judt und Timothy Snyder einen Monat vor dem Tod des großen englischen Historikers Judt fertiggestellt wurde. Es ist besonders, weil es nicht nur den Rückblick eines Intellektuellen auf das vergangene, sondern auch ein Vermächtnis für dieses Jahrhundert darstellt. Zugleich ist es ein Buch des Sterbens. Tony Judt, der 2010 einer schweren Krankheit erlag, konnte an sein letztes Werk nicht mehr Hand anlegen. Er hat seine Ideen und Erfahrungen dem 20 Jahre jüngeren Yale-Historiker Timothy Snyder erzählt. Entstanden ist daraus ein ebenso fein- wie tiefsinniges Buch, in dem die beiden sich kongenial ergänzenden Historiker beginnend mit Judts ostjüdischer Familie seine Entwicklung zum unabhängigen Denker vor dem Hintergrund des Jahrhunderts der Kriege diskutieren. Vor jedem Kapitel umreißt Judt die Zeit nicht ohne leise Selbstironie biographisch, so dass neben dem gelehrten Diskurs ein zauberhafter Einblick in die Person Judts gewährt wird. „Nachdenken über das 20. Jahrhundert" ist ein kluges und klares, nicht ver-, sondern beurteilendes Buch des Jahrhunderts, das in seiner Weisheit seinesgleichen sucht.sw |
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Anna Katharina Hahn
Letztes Jahr nominiert für den Leipziger Buchpreis, ist der zweite Roman Hahns heute fast schon wieder in Vergessenheit geraten - zu Unrecht! In präziser, kühler Sprache erzählt uns die Autorin von zwei älteren Ehepaaren, seit 30 Jahren benachbart und befreundet, dem Aufeinanderprallen ihrer Lebensentwürfe und -ideale und dem Scheitern jedes Einzelnen an der Welt. Arzt und Gattin suchen ihr Glück in Status, Erfolg und Besitz, Lehrer und Bibliothekarin in der schönen Literatur. Unter Hahns genauem, unbestechlichem Blick verrennt sich jeder der vier in seiner Welt auf seine Weise, werden Sehnsüchte, Träume und Erwartungen enttäuscht, bleibt schließlich nur noch, ein "normales" Leben zu leben. Nur der gemeinsam erzogene Peter scheint seinen Weg schnurgerade zu gehen, scheint sich vom Materialismus abwenden und die anerzogenen romatischen Bildungsideale leben zu können - bis er von Frau und Kindern verlassen wird. Können die beiden desillusionierten Paare ihm helfen diese Lebenskrise zu bewältigen? Der Roman stellt die großen Fragen; "Wie können, wie wollen wir leben?". Hahn hat damit keinen Saisontitel geschaffen, sondern noch lange empfehlenswerte Literatur. hj
237 Seiten |
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Dieter Richter Er hat weder den italienischen Himmel noch das Meer geschweige denn die Schweizer Berge gesehen, dabei reisten seine Leser mit seinem Titan als Leitfaden im Gepäck vom Lago Maggiore bis zum Golf von Neapel. Und viele seiner Bücher lesen sich wie Reisebeschreibungen eines weit herumgekommenen, die versteckten und offensichtlichen Schönheiten und Eigenarten fremder Menschen und ferner Länder kundigen Mannes. |
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Manfred Flügge „Als sie 15 wurde, verschwand der Ausschlag wie von Zauberhand. Das hässliche Entlein wurde zum bewunderten Schwan. Jetzt schauten alle mit Wohlgefallen auf sie, doch Evas Glücksgefühl darüber hielt sich in Grenzen. Sie mochte nur Menschen, die keine Kommentare über ihre Schönheit abgaben. So hat sie es selbst geschildert. Und doch sollte ihre frappierende Erscheinung als Entreebillet in die besseren Kreise dienen.“Nach Marta Feuchtwanger widmet sich Manfred Flügge in seinem jüngsten Buch einer beinahe unbekannten, aber hochinteressanten Malerin und Muse. Eva Herrmann kommt 1901 als Tochter eines jüdischen, amerikanischen Malers in München auf die Welt, wächst wohlhabend, aber unglücklich zwischen den geschiedenen Eltern pendelnd in Bayern auf, besucht mit 18 Jahren als Amerikanerin zum ersten Mal die Vereinigten Staaten und bleibt seitdem eine Reisende zwischen den Kontinenten, um sich 1940 bis zu ihrem Tod 1978 in Kalifornien niederzulassen.Fesselnd und flüssig, behutsam und respektvoll lotst Flügge den Leser durch die verwobenen Pfade und Lebenswege der tragischen Schönen, die der Fotograph und Galerist Alfred Stieglitz früh porträtierte und durch Ausstellungen in seiner Galerie schnell berühmt machte. Im Hause Stieglitzens, der mit der Künstlerin Georgia O´Keefe verheiratet war, kommt Eva mit Künstlern in Kontakt. Sie wird Muse des Fotographen, pflegt eine lange Liason mit Johannes R. Becher, zieht ins südfranzösische Sanary sur Mer, inspiriert die Exilanten Aldous Huxley, Lion und Marta Feuchtwanger, ist mit der Familie Thomas Manns, vor allem mit Klaus, Erika und Golo eng befreundet. Ihr Leben liest sich wie ein Who is Who der Literatur und der Künste im Europa der Zwischenkriegszeit und des Exils. Spannend! sw |
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Gunter Hofmann
Die Szene hatte etwas von High Noon: Lediglich dreizehn von vierhundert Delegierten votierten auf dem Sonderparteitag der SPD im November 1983 für den Kurs Helmut Schmidts und damit für die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden, die restlichen vierhundert folgten Willy Brandt. „Es kollidierten Realpolitik (Schmidt) und Idealismus (Brandt), und der führende Exponent der Realpolitiker unterlag. ... Alle drängte es aus dem Saal, als wollten sie flüchten". |
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Orlando Figes
„Hier (im Lager) herrschen auf eine tragische Art interessante Zustände... Groll wird zu Feindseligkeit, Feindseligkeit verwandelt sich in wilden Hass, Kleinlichkeit wird zur Bosheit und führt irgendwann zu einem Verbrechen. Schroffheit wird zu einer Beleidigung, Misstrauen zu Verleumdung, Geldgier zu Raub und Empörung zu Wut, die manchmal mit Mord endet." |
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Richard von Schirach
„Vor einer Villa am Philosophenweg hält am Morgen vor dem 1. Mai 1945 ein Bus, in den sechs Personen einsteigen. Es fällt auf in den letzten Kriegstagen, dass alle sorgsam in Zivil gekleidet sind. Offenbar treten die Herren unterschiedlichen Alters eine längere Reise an, denn es dauert eine Weile, bis alle Taschen, Aktenmappen, Koffer und Mäntel verstaut sind." |
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Shulamit Volkov
Walther Rathenau muss eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein: „aufgeklärt, modern und doch zutiefst konservativ" – vielfältig künstlerisch begabt, umfassend naturwissenschaftlich ausgebildet sowie wirtschaftlich und politisch aktiv. |
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Kia Vahland
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Sarah Bakewell
„Da lag nun mein Pferd gänzlich betäubt der Länge nach hingestreckt, ich zehn, zwölf Schritte davon entfernt, wie tot . . ." (Montaigne.) „Das Nah-Tod-Erlebnis, diese Erfahrung des Sterbens war ganz anders, als Montaigne es sich bis dahin vorgestellt hatte. Er hatte eine Reise an die Grenze des Todes unternommen, war ihm ganz nahe gekommen und hatte ihn gekostet wie ein unbekanntes Aroma. Dies war ein Essai über den Tod: eine Übung oder Exercitation." So beschreibt Sarah Bakewell in ihrer großartigen Biographie Montaignes die Hinwendung eines der bedeutendsten Vertreter der Renaissanceliteratur zur Betrachtung der eigenen Erfahrungen, hin zu der von ihm erfundenen und nach ihm benannten Form des meditierenden, sich selbst betrachtenden und literarischen Denkens. Montaigne habe immer wieder seine Empfindungen und Erfahrungen durchgespielt und so genau wie möglich rekonstruiert, um daraus zu lernen. |
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Stuart Neville
2007, Belfast: Gerry Fegan ist am Ende. Der ehemalige Auftragsmörder der IRA scheint nach zwölf Jahren Gefängnis sein Leben in naher Zukunft als verwirrter Alkoholiker zu beschließen: Die Geister der zwölf von ihm Gemordeten bedrängen ihn Tag und Nacht, ohne Unterlass. Doch unvermutet zeigt sich der Ausweg: Rächt Fegan die Opfer, werden die Schatten ihn in Ruhe lassen. So macht er sich daran, seine einstigen Weggefährten, die Auftraggeber der Morde, umzubringen... |
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Patrick Modiano
Dies ist einer der hinreißendsten, melancholischsten und sehnsuchtsvollsten Romane über das Paris der 60er Jahre, die es gibt. Eine geheimnisvolle, unglückliche, junge, kapriziöse Frau und ein kleiner Kreis männlicher Bewunderer geben nach und nach den Blick frei auf ein schwebend fragiles Leben, dass doch von so leiser wie tiefer Wahrheit erfüllt ist, aber einfach nicht gut ausgehen kann. Ein Roman mit einer zauberhaften Hauptfigur: PARIS. |
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Christoph Peters Anfang der 80er Jahre in einem strengen, katholischen Internat am Niederrhein scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Von den gesellschaftlichen Umwälzungen draußen scheint hier drinnen nichts anzukommen. Carl Pacher, Held dieses großartigen Romans, wächst wie all die anderen Internatszöglinge zwischen Gehorsam, Glaubensbejahung und christlicher Sexualmoral, sprich: |
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Sandra Hoffmann
Es sind die Erinnerungen Janek Bilinskis, die ihm, jetzt da er im Hospiz liegt und nicht mehr lange zu leben hat, von seinem dramatischen Leben geblieben sind. Geblieben ist aber auch ein Gefühl von: sehr viel Glück im Leben gehabt zu haben. |
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Ljudmila Ulitzkaja |
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Chad Harbach |
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Julie Otsuka |
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Bodo Kirchhoff
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Ursula Krechel
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Karl Heinz Bohrer Karl Heinz Bohrer, Jahrgang 1932, einer der großen Konservativen, kontroversen intellektuellen Gestalten des Landes, Mitinitiator zahlreicher politisch- ästhetischer Debatten der Republik, folgt den Spuren seiner Prägungen. Der Titel „Granatsplitter" könnte assoziativ eine Verbindung zu Jüngers „Stahlgewittern" nahelegen. Doch damit weit gefehlt. Viel eher drängt sich hier ein Vergleich zu Joachim Fests „Ich nicht" auf. Aber anders als bei seinem Kollegen von der FAZ ist Bohrers „Bildungsroman" keine Prägungs- und Erfahrungsgeschichte eines konkreten Ichs, sondern der Held seiner Erzählung erscheint in der dritten Person als der „Junge". „Granatsplitter", so stellt der Autor ausdrücklich fest, ist nicht Teil einer Autobiographie, sondern die Phantasie einer Jugend, so etwas wie ein Abenteuerroman der Ich-Werdung unter den Bedingungen der Nazizeit, des Weltkriegs und der Zeit nach der Stunde Null.
Hanser Verlag |
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Else Lasker-Schüler „..wenn noch die Menschen meine Lyrik lesen wollten, wer sie gern liest, der soll mir doch mal einen netten Brief schreiben. Was einen schlechte Kritiken ärgern! Man hat doch sofort jemand gern, der einem schöne Worte schreibt." Else Lasker-Schüler 1912
Transit Verlag, |
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Alain Claude Sulzer
Galiani Verlag |
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Jörg Trempler
C.H.Beck |
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Gaito Gasdanow Das Phantom des Alexander Wolf „Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe."
Hanser. |
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Wolfgang Hilbig „Ich". Roman. Ein sprachmächtiger deutscher Autor, der leider viel zu jung verstorben ist:
Band V der Werkausgabe in sieben Bänden. |
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Vladimir Sorokin Ein Landarzt und ein eigenwilliger Kauz sind mit einer Kutsche, gezogen von fünfzig miniaturgroßen Pferdchen unterwegs durch die russische Wildnis. Immer wieder kommen sie vom Weg ab und treten in die Einsamkeit und düsteren, lebensbedrohlichen Gefahren russischer Steppenwälder im tiefen Winter ein. Kiepenheuer & Witsch |
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Graham Chapman
Haffmans & Tolkemitt
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Norbert Zähringer Ob rasante Entführungsgeschichte oder romantisch, populär-wissenschaftliche Sternenguckerei, ob fast Krimi oder historische Erzählung, ob Nachdenken über Zufall, Plan Gottes, das Verschwinden der Dinosaurier, Anfang, Mitte und Ende des Universums oder den Platz, den jeder einnimmt, das ist alles höchst unterhaltsam, aber immer sehr souverän erzählt. Ein gut, lebendig und souverän erzähltes Buch. Hier versteht einer das Handwerk des verzweigten Erzählens, legt viele Fäden aus und webt sie alle wieder gekonnt zusammen. Ein schönes Lesevergnügen bei dem man sich am Ende aller wilden Geschichten zum Trotz auch noch aufgehoben fühlt im Universum.
Rowohlt Verlag |
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Claude Lévi-Strauss
Wenn aus einem kleinen Buch von 148 Seiten ein großes Buch werden kann, dann liegt es an seinem Gehalt. Lévi- Strauss bisher unveröffentliche Vorträge von 1986, gehalten in Japan, sind nicht nur eine Einführung in sein Denken, sondern auch Beleg für die Anwendung der Anthropologie als Kritik der modernen Welt. Die Krise der westlich- industriellen Welt wird dabei genauso beeindruckend skizziert, wie die Vielfalt der unterschiedlichsten Kulturen. Die anthropologischen Aufklärung untermauert die Haltung eines bedeutenden Humanisten.
Suhrkamp Verlag |
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Hanjo Kesting
Der Literaturkritiker und Kulturjournalist Hanjo Kesting stellt in dieser Edition grundlegende Texte der europäischen literarischen Kultur vor. Ein in jeder Hinsicht gelungener Versuch, sowohl in der Auswahl, wie in der Vermittlung durch seine Essays, das große literarische Erbe Europas lebendig werden zu lassen, und den Wert von Traditionen zu erkennen.
Wallstein Verlag |
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Andreas Wirsching
Das Buch des Münchner Zeithistorikers erscheint als ein Wagnis, wie das Projekt das er beschreibt eines ist.Wagnis deshalb, weil Geschichtsschreibung über eine Epoche, deren Ende noch nicht ausgemacht ist, zu viele Imponderabilien birgt, abschließende Urteile nicht geraten sind. Trotzdem ist hier soviel gelungen, dass dies zu lesen nur zu empfehlen ist. Das Europa heute ist das Ergebnis der großen europäischen Geschichtsstunde- Gemeinsam aus der Geschichte lernen. Die Krise Europas- das Ergebnis von Fehlern und Übereiltheiten im politischen Prozess. Andreas Wirschings Buch ist Zeitgeschichtsschreibung, wie man sie sich wünscht.
Beck Verlag |
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Robert Spaemann |
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Jörg Baberowski Verbrannte Erde Stalins Herrschaft der Gewalt Baberowskis neues Buch über Stalins Schreckensherrschaft ist nicht nur die Revision an der ehemals eigenen Position ( Der rote Terror, 2003), sondern auch eine Neubewertung der Rolle von historischen Persönlichkeiten in der Geschichte. Nicht allein die Strukutren von Gesellschaften sind entscheidene, sondern auch die Charaktere der politisch Handelnden. Wenn Skrupelosigkeit und kriminelle Energie mit politischer Macht zusammenkommen, beschönigt durch eine Ideologie, entsteht eine menschenverachtende Gewaltherrschaft, wie im Falle Stalins. Baberowskis Studie ist ein grundlegendes Werk, ein bedeutendes Werk der Geschichtsschreibung, ein notwendiges Werk zur Bewertung der Schrecken des 20. Jahrhunderts. Der Leipziger Buchpreis 2012 für den Autor ist die angemessene Würdigung dieses Werkes. C.H. Beck Verlag Gebunden, 606 S. 29,95€ |
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Stephen Greenblatt |
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Immer auf der Hut |
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Dea Loher Bugatti taucht auf Dea Loher, einigen bekannt als viel gespielte Dramatikerin auf Deutschlands Bühnen, hat ihren ersten Roman geschrieben. Es ist die Geschichte eines brutalen Mordes an einem jungen Mann, 2008 so geschehen in Locarno/Schweiz. Luca wird bei einem Fasnachtsfest von drei Jugendlichen angerempelt, geschlagen und getreten. Er stirbt. Die kleinteiligen Aussagen der Angeklagten vor Gericht machen den Hergang nicht transparent, die Schuldfrage ist nicht eindeutig zu klären. Und selbst wenn, eine solche Tat steht unbegreiflich und groß da in der Welt. Zu verstehen gibt es da nichts. Jordi, ein Freund der Familie des Ermordeten, ein Grübler und hochsensibler Tiefenbohrer, hat eine ganz andere Idee, diesem unglaublichen Geschehen etwas entgegenzusetzen, „etwas Schwerwiegendes, das man nicht ignorieren, nicht weg messen, nicht verwerfen konnte, etwas gutartig Schönes, dessen Krafteinen Teil der Gewalttat überstrahlen könnte; ... ein Riesending, ein Zartes." Und so kommt es, dass er einen alten Bugatti Typ 22 Brescia aus dem Lago Maggiore birgt, der dort seit siebzig Jahren im Schlamm des Sees liegt. Alles so geschehen, nichts erfunden. Dea Loher hat aus diesem Stoff einen sehr feinen, kunstvoll komponierten und stilistisch und sprachlich höchst bemerkenswerten Roman gemacht, dessen Symbolik niemals übertrieben wirkt. Ein Buch, das im Leser Spuren hinterlässt. Großartig! Wallstein Verlag Gebunden, 208 S. 19,90€ |
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Lisa Kränzler Export A "Export A" ist ein eindrucksvoller Debüt-Roman, der vor allem durch seine expressive und schöne Sprache besticht; die Erzählerin findet ungewohnte, aber um so treffendere Bilder für die Erlebnisse der 16-jährigen Austauschschülerin Lisa. Die Protagonistin sucht in ihrem Jahr in Kanada den perfekten Moment, sehnt sich nach Lebendigkeit und Geborgenheit, verliert jedoch mehr und mehr nicht nur die Reste ihrer jugendlichen Naivität, sondern auch jegliche Bodenhaftung, sieht den Abgrund immer klarer, und versucht, ihm zu entgehen. Aber ihre Welt wird im metaphorischen wie buchstäblichen Sinne immer kälter und enger. Sie lebt als einziges weibliches Mitglied einer verwahrlosten Kiffer-WG am Existenzminimum, kann das Haus wegen der arktischen Temperaturen irgendwann kaum noch verlassen, steigert sich auf allabendlichen Parties in Alkohol- und Drogenexzesse hinein bis es schließlich zur Katastrophe kommt. Definitiv kein Jugendbuch zieht Export A durch einen meisterhaften Sprachgebrauch in Bann, der dem Leser die ganze Komplexität des Unschulds- und Sinnverlustes der Welt Lisas aufzeigt. Kränzler schreibt schonungslos, unaufgeregt und gerade dadurch einfühlsam – "Export A" ist ein berührender Roman, den man so schnell nicht vergisst. Verbrecher Verlag Gebunden, 256 S. 21,00€ |
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Ivan Klima Stunde der Stille Ivan Klima, einer der wichtigsten tschechischen Autoren der Nachkriegszeit und einer der Wortführer des „Prager Frühlings", stellt seinen ersten Roman – aus dem Jahre 1963 – vor. Ein Schlüsselroman der tschechischen Literatur, zum ersten Mal in deutscher Übersetzung. "ein wirklich großes buch! ...: ein jahrhundertroman, denn ich wüsste nicht, wo sonst in der europäischen literatur die phase des scheiterns des aus-guten-gründen-besser-machen-wollens nach diesem scheißweltkrieg besser, dh differenzierter und unideologischer und menschennäher sowie poetischer dargestellt worden wäre... daran müsste eigentlich die "kritische" ddr-literatur gemessen werden, daran sieht man erst, was sie nicht geleistet hat oder nicht leisten konnte." Friedrich Christian Delius Transit Verlag Gebunden, 256 S. 19,80€ |
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