Buchempfehlungen Romane

ANNE BEREST. DIE POSTKARTE
Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner
Berlin Verlag
Die Postkarte mit den vier Namen, die eines Tages im Briefkasten von Anne Berests Mutter liegt, ist der Anfang einer langen Reise durch die Zeit. Sie beginnt im postrevolutionären Moskau, als Nachman Rabinovitch 1919 seinen Sohn Ephraim sowie dessen Brüder auffordert, das Land zu verlassen – der »Fäulnisgeruch in seiner Nase« lässt ihn Schlimmes ahnen - und endet rund hundert Jahre später auf einem französischen Schulhof, wo ein kleines Mädchen, die Tochter der Autorin, sich von einem Jungen anhören muss, sie könne leider nicht mehr in die Fußballmannschaft gewählt werden, „weil man in meiner Familie Juden nicht mag.“
Ephraim über Riga und Haifa schließlich nach Paris, wo ein gewisser Louis Ferdinand Céline 1937 eine unerträgliche antijüdische Hetzschrift veröffentlicht, und wo jeder Bemühung der Familie Rabinovitch, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen, ein bürokratischer Riegel vorgeschoben wird. Den Kriegsbeginn erleben Ephraim und seine Familie in der Normandie, dort fühlen sie sich sicher. Unvorstellbar für sie, dass der Staat an ihrer Vernichtung arbeitet. Sie werden verhaftet und einzig Tochter Myriam, die Großmutter der Autorin, entkommt, im Kofferraum eines Wagens, in dem schon Hans Arp liegt. Ihre Fluchthelfer sind Vicente Picabia und seine Schwester, die dem Widerstand angehört, wie fortan auch Myriam. Sie wird die einzige Überlebende der Familie sein.
In Frankreich war „Die Postkarte“ ein großer Erfolg, die Mischung aus Romanbiographie und historischer Reportage trug dazu bei. Hierzulande dürften viele Details über die Kollaboration und deren Aufarbeitung un- oder nur wenig bekannt sein und die detektivisch recherchierte Familiengeschichte einige Fragen aufwerfen – unbequeme Fragen. nc
544 Seiten
28 €

MARVEL MORENO. IM DEZEMBER DER WIND
Aus dem kolumbianischen Spanisch von Rike Bolte
Wagenbach Verlag
Einmal in dieses Buch eingetaucht, ist es als betrachte man die Eruptionen eines aktiven Vulkans.
Die immer anwesende Hauptfigur Lina ist das glühende Erzählzentrum, von dem aus sich die heißen Ströme von Marvel Morenos Satzkaskaden verzweigen. Mal verlieren sie sich in der Familiengeschichte einer der vielen Figuren, mal schlagen sie Breschen durch psychoanalytisches oder biblisches Gedankengelände. Vorm lesenden Auge flimmert dann der Straßenstaub Barranquillas und im Dezemberwind weht die Hoffnungslosigkeit der jungen Generation vorüber. Zu dieser gehören Lina, Dora, Catalina und Beatriz – alle aus gut betuchtem Haus. Und alle vier kämpfen sie gegen eine sich auflösende traditionelle Ordnung. Die verschlungenen Lebenswege der Frauen werden gekreuzt von jähzornigen Männern, deren Allmachtsfantasien ihnen am Ende meist zum Verhängnis werden. Ihre Einzel- und Familienschicksale sind eng verknüpft mit den politischen Ideologien und Zeitläuften Europas und Lateinamerikas der Nachkriegszeit. Moreno spart dabei nicht mit Drastik und Sarkasmus, zeigt aber so die Unentrinnbarkeit der modernen Geschlechter- und Klassenverhältnisse am Beispiel ihrer Heimat auf. „Im Dezember der Wind“ – diese wunderbare Wiederentdeckung des Wagenbach Verlags – ist ein dunkel funkelndes Zeitbild Kolumbiens der Sechzigerjahre, welches sein Licht auch in die Gegenwart wirft. tw
432 Seiten
32 €

PHILLIS WHEATLEY. NIE MEHR, AMERIKA! GEDICHTE UND BRIEFE
Aus dem Englischen von Florian Bissig
Friedenauer Presse
Mit sieben oder acht Jahren von Afrika nach Amerika verschleppt, wurde Phillis Wheatley 1761 als Sklavin an die Familie Wheatley verkauft.
Sie war die erste afroamerikanische Frau, der es gelang 1773 einen Gedichtband zu veröffentlichen. Dieser Band liegt nun endlich auch im Deutschen vor, ausgezeichnet übersetzt von Florian Bissig und versehen mit einer ausführlichen und sehr aufschlussreichen Einleitung.
Phillis Wheatley inspiriert bis heute viele afroamerikanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller (u.a. Amanda Gorman). Mit ihren Gedichten bewies sie hohes formales und kreatives Können und allein die Veröffentlichung ihrer Texte zeugt von ihrem Mut, ihrer Kühnheit und Entschlossenheit. Für die Publikation war eine Widmung an die Gräfin von Huntingdon und die Versicherung von 18 (!) prominenten weißen Männern nötig, dass sie ihre Gedichte tatsächlich selbst verfasst hatte. Besonders bemerkenswert an ihrem Werk ist ihr „exaktes Gespür für das Sagbare“ (Bissig). Ihre Gedichte nehmen sich Freiheiten heraus, indem sie das herrschende rassistische Weltbild zum Teil bestätigen. Sie spielt mit diesen Erwartungen, und so bleiben ihre Gedichte immer gerade noch zumutbar für die damalige weiße Leserschaft. Sie verarbeitet religiöse und politische Themen der Zeit, es geht um spirituelle, wie auch um persönliche Freiheit. Die schön gestaltete Ausgabe lädt dazu ein, das Werk und die Geschichte von Phillis Wheatley zu entdecken und zu würdigen. Eine echte Lücke in der deutschsprachigen Bibliothek der Weltliteratur wurde somit geschlossen. Was von der Begründerin der Tradition der afroamerikanischen Lyrik erhalten geblieben ist, ist enorm wertvoll und lesenswert. jh
185 Seiten
22 €

Klara Blum. Der Hirte und die Weberin
Die Andere Bibliothek, Band 463
48€
309 Seiten
Klara Blum – ein weiterer, klangvoller Name in der Liste der Vergessenen und Wiederentdeckten. Ihr Roman - ein wahrhaft ungewöhnlicher Text; wie könnte es auch anders sein, möchte man denken, entspringt er doch der Feder einer der Bukowina entstammenden Autorin. Die Bukowina, ein historischer Landstrich, buchenbewaldet und sprachengemischt, die einen gewissen Paul Ancel sowie Rose Ausländer, Selma Meerbaum und andere Stimmen hervorbrachte.
Titelgebend für den in der DDR zunächst verbotenen, dann still und leise veröffentlichten und später vergessenen Roman, ist die chinesische Volkssage einer verbotenen Liebe zwischen einem Hirten und einer Weberin, die durch einen Fluss getrennt werden. Das Geschehen katapultiert den europäischen Leser in die geheimnisvolle Welt Chinas, wo um 1937 herum die autobiographisch gefärbte Liebes- und Leidensgeschichte ihren Anfang nimmt. Nju-Lang, Sprössling einer Seidendynastie, ebenso unglücklich wie pflichtgemäß verheiratet und Vater geworden, ist ein leidenschaftlicher Theaterliebhaber, und seine improvisierten Inszenierungen westlicher, vermeintlich subversiver Stücke drängen ihn schließlich in die Flucht. In Moskau begegnet er der jüdischen Österreicherin (aus der Bukowina), Dichterin und Kommunistin Hanna Bilkes. Sie verlieben sich, und obwohl ihnen nur drei gemeinsame Monate beschieden sind, sind diese dennoch lebensprägend. Denn als Nju-Lang eines Tages ohne eine Nachricht verschwindet, hält Hanna bis zuletzt, viele Jahre lang, zu ihm, in der Überzeugung, dass ihr Geliebter auf eine geheime Mission geschickt worden wäre. Sie setzt alles daran, ihn wiederzutreffen, aber der Krieg, die Umstände erlauben ihr zunächst nicht, die Sowjetunion zu verlassen, sodass ihr erst Jahre später unter größten Entbehrungen über Prag und Paris die Reise nach China gelingt, wo sie hofft, ihren Geliebten zu finden.
Einiges spricht dafür, dass das Abenteuerliche dem außergewöhnlichen Leben der Klara Blum selbst abgeschrieben ist. Aber sie macht es Lesern nicht leicht, zu ihr vorzudringen, Anteil an ihrer Lebensfiktion zu nehmen: Im Stakkato, das an das Frühwerk Gabriele Tergits erinnert, preschen die Dialoge voran, Namen werden fallengelassen, unseren Ohren so fremd, dass sie dem Gedächtnis schon entfallen sind, noch bevor klar wird, ob man sie sich merken muss. Aber eben in jener Flüchtigkeit offenbart sich Blums tiefe Kenntnis der chinesischen Kultur und komplizierten politischen Ereignisse. Und die Schilderung der kolonialistisch-rassistischen Verhältnisse in Shanghai, der hierarchisch geprägten Beziehungen zwischen Chinesen und Weißen (Achtung: in der Sprache ihrer Zeit!) ist dermaßen scharfsichtig, dass der Autorin Vieles verziehen werden kann. Das Nachwort von Julia Franck ist, wie so oft bei Nachworten, unbedingt als hilfreiche Vorlektüre zu empfehlen. Und versteht man den Band als starken Einstand der neuen Herausgeber dieser wundervollen Reihe, Julia Franck und Rainer Wieland, dürfen wir hoffen, dass die Andere Bibliothek bleibt, was sie immer war: die besondere Reihe für den besonderen Leser. nc

Die Wunderkammer des Lesens
Hg. Thomas Böhm
Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
€28,-
320 Seiten
Die Wunderkammern aus dem Verlag Das Kulturelle Gedächtnis bilden inzwischen eine kleine Reihe. Neben der jetzt neu erschienenen Wunderkammer des Lesens gab es zuvor schon die Wunderkammer des Reisens durch Deutschland und die Wunderkammer der exzentrischen Küche. Die Wunderkammer ist prall gefüllt, und doch zunächst einmal etwas für Augenblicke, in denen Leser und Leserin gerade nicht in der Stimmung für epische Romanverwicklungen sind, aber die Finger trotzdem nicht vom Buch lassen können.
Das Buch lädt zum Herumblättern ein, und es ist höchst wahrscheinlich, dass das Auge des Lesers an einem Stichwort, einem Namen oder einer der originellen Grafiken hängenbleibt. Die Wunderkammer beherbergt eine prächtige Sammlung von Fakten und Fiktionen übers Lesen, und es stehen Kuriositäten neben Literarischem oder auch rein praktischen Informationen. Hier können Sie nachlesen, welche Titel in der Bibliothek der ISS stehen oder wie Sie einen Lesekreis gründen, warum Richard Powers seine Bücher nicht signiert oder welche Strategien es gibt, um Gedichte auswendig zu lernen. Auch Hans Fallada, Virginia Woolf oder Fontane kommen zu Wort. Möglicherweise erfreuen Sie sich auch an den zusammengetragenen Wortschönheiten aus dem Meyers Konversationslexikon und dem Grimm’schen Wörterbuch: die Büchergewandung, das Lesewesen, der Schriftling … Darüber hinaus ist das Buch toll gestaltet - so bunt und unkonventionell wie auch die anderen Titel aus der Wunderkammer-Reihe. Eine tolle Empfehlung für alle, die schöne Bücher und das Lesen lieben. nc

FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS. „DARLING, IT'S DILIUS!“ ERINNERUNGEN MIT GROSSEM A
Rowohlt Berlin Verlag
320 Seiten
€ 24,-
Wie schreibt man über das eigenen Leben? Wie findet man eine dem Leben, jedem Leben gemäße Form? Für Friedrich Christian Delius, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre, war eines ausgeschlossen: ein chronologisches Erzählen biografischer Stationen. Aber wie dann? Er kommt auf eine unglaublich originelle und bezwingend einfache und bezwingend verschmitzte Idee: Ich erzähle mein Leben frei, assoziativ, sprunghaft und lebendig ohne am Ende an ein solches zu stoßen. Welch ein Einfall! Denn jedem Anfang liegt ein Zauber inne. So komponiert und collagiert und ordnet oder betrachtet er sein Leben indem er zurücktritt, den Buchstaben A nimmt und so blitzlichternd, scharfsinnig und heiter verschmitzt aus seinem Leben erzählt.
Ein Leben voller A… nfänge. So fragmentarisch der erste Anschein, blicken wir Leser auf ein erfülltes, ereignisreiches Leben, das von einer bewundernswert klaren Haltung und politischer Aufklärungskraft, großer Liebenswürdigkeit, von Empathie, Sensibilität, von unerschöpflichem, leisem Humor und dem Willen zur Form zeugt. Schleichers Buchhandlung verdankt diesem Autor unvergesslich eindrückliche Abende im Dahlemer Autorenforum.
Wenn Du nur auch noch B und C und D usw. hinzufügen könntest, lieber Christian.
Silke Grundmann

LISA WEEDA. ALEKSANDRA
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Kanon Verlag
286 Seiten
€ 25,-
Gold ist das Geweih der Hirsche, dem Symbol der Familie Krasnov, Weiß sind ihr Fell und das Leinen; Blau die Blumen, Rot die Liebe. Baba Mari, Lisas Urgroßmutter, bestickt ihr weißes Leinentuch außerdem auch mit schwarzem Garn, denn schwarz steht für die fruchtbare Erde des Donbass, und für allen Verdruss. In einer Geheimsprache aus unterbrochenen oder jäh endenden Lebenslinien, Namen und Farben stickt Baba Mari die Geschichte ihrer Donkosaken-Familie heraus. Da ist ihr Vater, der 1904 in den russisch-japanischen Krieg zieht und als gebrochener Mann zurückkehrt. Da ist die Gemeinschaft der Donkosaken, die als Strafe für ihren Kampf auf der Seite des Zaren nach der Revolution »entkosakisiert« und deportiert wird. Da ist ihre Familie, die im Zuge der Bolschewisierung und »Entkulakisierung« durch Brigaden von Roten von Haus und Hof vertrieben und ihres Getreides beraubt wird, wobei die Ehrlosen sogar das Saatgut verschleppen – aber die Familie überlebt den Holodomor, wenn sie auch spindeldürre, fremde kleine Mädchen mit geschwollenen Beinen begraben muss.
Als Baba Maris Tochter Aleksandra elf Jahre nach der Hungersnot 1942 am Bahnhof von Luhansk steht und in den deutschen Viehwaggon steigen muss, der sie als »Ostarbeiter« in eine deutsche Fabrik befördern wird, schenkt Baba Mari ihr das Tuch, sie soll es weiter sticken und niemals aus der Hand geben. Aleksandra kehrt nie zurück in ihre Heimat – aus Angst, dort als Kollaborateurin verhaftet zu werden, und weil sie in der Fabrik den niederländischen und ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppten zukünftigen Vater ihrer Kinder trifft.
Nun, 2014, soll Aleksandras Enkelin Lisa im Auftrag ihrer Großmutter das Leinentuch zurück nach Luhansk bringen, wo die Volksrepublik ausgerufen wurde. Es soll ihrem Cousin Kolja helfen, denn er wird vermisst, das Beharren auf seiner Freiheit, die in seiner Kosakenfamilie immer an oberster Stelle stand, hat ihn in schreckliche Schwierigkeiten gebracht.
Es ist Lisas Urgroßvater Nikolaj, der sie zu Kolja führt, die drei begegnen sich außerhalb der Zeit, im Palast des verlorenen Donkosaken, und dort schließt sich am Ende auch der Kreis, als sich die Silhouetten der Hirsche »auf der dünnen Linie zwischen dem hellblauen Himmel und dem goldgelben Feld« verflüchtigen. In fantastischen Zeitsprüngen nimmt Lisa Weedra ihre Leser auf dem Rücken der Weißen Hirsche mit den goldenen Geweihen mit auf eine Reise durch die bewegte Lebensgeschichte ihrer Ahnen, deren bewaffneter Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit heute das Selbstbild vieler Ukrainer prägt. Norma Cassau

CLEMENS J. SETZ MONDE VOR DER LANDUNG
Suhrkamp Verlag
528 Seiten
€ 26,-
Das Abseitige ist Clemens J. Setz nie fremd gewesen. In seinen Prosawerken und Essays setzte er sich unter anderem mit parawissenschaftlichen Phänomenen oder Plansprachen auseinander. So erstaunt es zunächst, dass sein jüngster Roman in einem eher klassisch historischen Panorama angesiedelt ist. Schauplatz ist das Worms einige Jahre nach dem 1. Weltkrieg. Unter den redlichen Bürgern des Rheinstädtchens befindet sich auch Peter Bender. Der glaubt nicht an das knapp 400 Jahre geltende Kopernikanische Weltbild. Für Bender lebt die Menschheit im Inneren einer Kugel. Die Erdmasse wölbe sich also auf einer konkaven Oberfläche um einen Himmel aus Füllgas. Die Hohlerdentheorie findet eine überschaubare Anzahl an Anhängern, die Bender mühselig um sich scharrt. Seine Frau Charlotte verfolgt indes lieber pragmatischere Ansätze der Familienversorgung – und ist deutlich hellsichtiger als Bender. Denn: die Inflation rollt an und nationalistische Stimmen gewinnen an Gewicht. Bender redet die zunehmende Repression gegen seine jüdische Ehefrau klein. Bis die ersten jungen Männer in SA-Hemden durch Worms patrouillieren. Bender muss nun den Realitäten ins Auge blicken. Clemens Setz hat einen kenntnisreichen, gut recherchierten Roman geschrieben. Einer, der durch seine hintergründig ironische Haltung, seine sprachliche Originalität und nicht zuletzt durch seine historische Anschaulichkeit besticht. Tristan Wagner

SIRKA ELSPASS ICH FÖHNE MIR MEINE WIMPERN. GEDICHTE
Suhrkamp Verlag
80 Seiten
€ 20,-
Sirka Elspaß trifft mit dem Ton in ihren Gedichten einen bestimmten Nerv bei mir, der mich schmunzeln und melancholisch werden lässt. Ihre Gedichte handeln vom Erwachsenwerden, von Alltagssituationen. Davon, mit dem Leben klar zu kommen, und nicht zuletzt von der Beziehung zu ihrer Mutter. Ihre Gedichte sind meist kurz, die Themen und Verse einerseits durcheinander, aber auf eine gewisse Weise auch klar. Ihre Themen, ihr Ton wird vor allem jüngere Menschen ansprechen. Vielleicht können aber ältere Leute durch ihre Gedichte einen Blick in die Gefühlswelt von jungen Erwachsenen heutzutage werfen. Häufig spricht sie ernste Themen an wie Essstörung und Depression, sie verarbeitet ihren Schmerz. Sicher können sich viele junge Leute mit diesen Schwierigkeiten identifizieren. Der oft mitschwingende Humor macht ihre Gedichte aber besonders zugänglich. Johanna Hummelt

LUKAS BÄRFUSS
VATERS KISTE. EINE GESCHICHTE ÜBER DAS ERBEN
Rowohlt, 95 Seiten,
€18,-
DIE KRUME BROT
Rowohlt, 256 Seiten
€ 22,-
„Meine Herkunft bleibt ungewiss. Ich könnte darüber nicht glücklicher sein.“ stellt Lukas Bärfuss am Ende seines literarisch-essayistischen Textes VATERS KISTE fest, der sich mit dem Erben im ökonomischen und soziologisch-psychologischen Sinne auseinandersetzt.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod seines Vaters, der schon zu Lebzeiten abwesend war, öffnet Bärfuss eine von ihm geerbte Bananenkiste, die Zeugnisse eines Lebens in Armut enthält. Auch ihm sind die Mahnungen und Schuldscheine aus eigener Erfahrung bekannt und zeigen, wohin sein Leben hätte führen können. Die eigene erfolgreiche Entwicklung sieht Bärfuss in seinem Mangel an Erbschaft begründet, der ihm die Freiheit gab, sich selbst zu erfinden und ihn weder geistig noch finanziell fesselte – obwohl, wie er bemerkt, auch sein Vater ein Geschichtenerzähler gewesen sein muss, der im kleinen Berner Oberland immer wieder Mitmenschen überreden konnte, ihm Geld zu leihen. Von dieser Position aus stellt Lukas Bärfuss das gesamte Konzept des Erbens infrage, das hauptsächlich reichen Gesellschaften vorbehalten ist, und erweitert den Begriff auf die Umwelt, die wir unseren Kindern hinterlassen, den Müll im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Dabei schlägt er spannende Kapriolen, die zum Nachdenken anregen, ob man mit ihm übereinstimmen mag oder nicht.
In seinem neuen Roman DIE KRUME BROT lassen sich diese Gedanken wiederfinden.
Adelina, das vermeintlich unbegabte Kind italienischer Einwanderer in der Schweiz, findet sich in den 1970er Jahren als alleinerziehende Mutter wieder, die trotz harter Arbeit immer am Rande des Abgrunds balanciert. Damit steht sie in der Tradition ihrer Familie, deren Väter ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen stets als Enttäuschung oder Belastung empfanden. Wie Adelina versucht, sich und ihre Tochter aus diesem Teufelskreis zu lösen, beschreibt dieser Roman, der wie das Essay keine einfachen Lösungen bietet. Christina Mathioszek

EEVA - LIISA MANNER. DAS MÄDCHEN AUF DER HIMMELSBRÜCKE
Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann. Mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel
Guggolz Verlag
Der schmale Roman der hierzulande noch weitgehend unbekannten finnischen Autorin Eeva-Liisa Manner versetzt den Leser in solch einen erfüllten Schwebezustand, wie es die junge Hauptfigur Leena im Buch mit sich selbst tut. Denn: Leena ist eine Träumerin, eine, die ihre Umwelt mit einem magischen Kindesblick beseelt. Sie konstruiert sich beispielsweise eine Himmelsbrücke, wenn in ihrer Fantasie das spiegelnde Wasser zum Himmel wird und umgekehrt – sie dazwischen stehend, weder zur einen noch zur anderen Seite gehörend.
In der Schule findet die Neunjährige mehr schlecht als recht Anschluss sowohl was den Lernstoff als auch das soziale Umfeld angeht. Die starren Regeln und Ansprüche der Autoritäten überfordern sie. Lieber streift Leena durch ihr Dorf und entdeckt in einer katholischen Kirche die Musik Johann Sebastian Bachs. Genauso wie den offenbar betrunkenen Filemon, der nach seinem Orgelspiel mit ihr philosophische Fragen zu diskutieren pflegt: Ist das Leben vorbestimmt wie eine Partitur oder sind wir alle in eine wilde Zufallswelt geworfen? Bei aller Metaphysik entgeht den aufmerksamen Lesern jedoch nicht die feine Ironie Eeva-Liisa Manners – gerade in dieser Szene. Daneben ist es vor allem die ungewöhnliche Sprachkraft, die, zwischen erwähnter Ironie, Dada, Naturbeschreibung und kindlichen Realismus changierend, die Sogwirkung dieses Buches ausmacht. Dazu kommt es ohne eine wirkliche Handlung gut aus, weil es die Fantasie als eine menschliche Grundfeste treff- und wortsicher beschwört. Tristan Wagner
180 Seiten
€ 22,-

RICHARD HARDING DAVIS: GALLEGHER DER LAUFBURSCHE UND ANDERE STORIES
Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser.
Mit einem Nachwort von Bernd Erhard Fischer
Edition A. B. Fischer
Einen schönen Fund hat die Editon A. B. Fischer mit den Erzählungen des amerikanischen Journalisten Richard Harding Davis gemacht, die hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegen. Deutlich beeinflusst von den Romanen Charles Dickens' erschaffen die Erzählungen ein Sozialpanorama New Yorks am Ende des 19. Jahrhunderts, in dem arme Gauner wie reiche Erben ein großes Herz beweisen und nach gelegentlichen Verirrungen stets auf den Weg der Moral zurückfinden. So überholt das romantische Konzept klingen mag, lesen sich die Geschichten doch vergnüglich und schaffen ein lebendiges Bild der Stadt, das wiederum sehr gegenwärtig erscheint. Resignierte Reporter, die meinen, schon alles gesehen zu haben, feierwillige Nachtgestalten, die durch Straßen und Kneipen ziehen, oder junge Liebende, die bei der Verlobung Torschlusspanik ergreift, sind hier nur drei der Situationen, die über hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung keineswegs antiquiert erscheinen.
Und obwohl jede Erzählung in sich abgeschlossen ist, gibt es Charaktere, die mal als Hauptfiguren und mal in einem Nebensatz oder als Nebenfigur in einer anderen Geschichte wieder auftauchen, wodurch ein organisches Bild der großen Stadt und unerwartete Zusammenhänge entstehen.
Im Nachwort stellt Bernd Erhard Fischer den hier unbekannten Autoren vor, der als Journalist, Kriegsreporter, Freund Roosevelts aber auch als Stilikone – stets glattrasiert und in feinem Zwirn - selbst ein abenteuerliches Leben geführt hat, und der als einer der bekanntesten Reporter seiner Zeit gilt. Eine späte, aber interessante Entdeckung. Christine Mathioszek
183 Seiten
€ 22,-

GIULIA CAMINITO. DAS WASSER DES SEES IST NIEMALS SÜSS
Aus dem Italienischen von Barbara Keiner
Wagenbach Verlag
Schon Caminitos erster ins Deutsche übersetzte Roman »Ein Tag wird kommen« war ein echtes Leseerlebnis. »Das Wasser des Sees ist niemals süß« steht dem in nichts nach. Es ist nicht das Dolce-vita-Italien, sondern das herbe Italien der Sozialwohnungen, der Spritzen im Hof, der unversicherten Schwarzarbeiterunfälle, der zerfallenden Schulen, der stickigen, überfüllten Pendlerzüge, der mühsamen Stufen zwischen alten Gemäuern, das Italien der jungen Menschen ohne Perspektive. Es ist das Leben der jungen Protagonistin Gaia, der die Mutter eintrichtert, dass nur Bildung aus der Misere heraushelfe. Und so liest sich Gaia durch die Weltliteratur und schafft es zuletzt sogar bis zur Philosophie-Doktorandin, um dann doch als Putzfrau zu enden. So hart die Mutter, so verhärtet die Tochter – und dabei doch immer auf der Suche nach Freundschaft, vielleicht sogar Liebe, die stets in sich fremd anfühlenden, aneinanderreiben Körpern und Verrat endet. Die aufgestaute Wut und Machtlosigkeit gegen das System entlädt sich in hemmungslosen Gewaltausbrüchen Gaias, die weder vor Faustschlägen noch vor Benzinkanistern zurückschreckt. Die Hiebe treiben dann auch Caminitos Sprache temporeich voran, und die gelungene Übersetzung reißt ihre Leser mit. Selten erhellen Sonnenstrahlen den dunklen Grund des Sees, nur manchmal blinkt etwas auf, vielleicht eine versunkene Weihnachtskrippe. Auch in Gaias Leben blinkt manchmal etwas auf, das anmutet wie Zugehörigkeit und Freude - bis sich die nächste Wolke wieder davorschiebt.
Ein kraftvoller Roman über das Erwachsenwerden in prekären Verhältnissen. Wer die italienische Literatur mit Elena Ferrante und Francesca Melandri für sich entdeckt hat, darf und sollte unbedingt hier weiterlesen. Norma Cassau
315 Seiten
€ 26,-

Daniela Dröscher. Lügen über meine Mutter
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Es ist die Zeit von Rondo Veneziano, Dallas, Wackersdorf und Trennkost-Diät – das Meiste gehört der Vergangenheit an. Dass eine Frau möglichst wenig Raum einnehmen soll mit ihrem Körper, ist bis heute so geblieben. Verblüffend, mit welcher Schamlosigkeit und Gemeinheit, aus welcher Machtlosigkeit und aus welchem Kontrollbedürfnis heraus der Mann seiner Frau wieder und wieder vorhält, zu dick zu sein. Wo alle anderen mit ihrer Partnerin kommen, zur Weihnachtsfeier, zum Strandurlaub, muss er sie zu Hause lassen. Maßlosigkeit und Nimmersattsein rühren an seine Männerangst, ist er doch in Wirklichkeit selbst hilflos verfangen in seiner Rolle als Mann und Vater. Als seine Frau erbt, gibt er eine Weile Ruhe, er ist zu beschäftigt damit, den Hausbau zu planen und mit seinem neuen Cabrio herumzufahren. Derweil lernt die Frau Französisch, um mehr zu verdienen, nimmt das Nachbarsmädchen Jessy bei sich auf, um es vor dem Heim zu bewahren, pflegt die alzheimerverwirrte Oma Ella, die erst immer spazieren gehen will und später bettlägerig ist. Neben Oma Ella und Jessy hat sie noch ihre eigenen beiden Töchter im Schlepptau. Aus der Perspektive der älteren Achtjährigen erleben wir Mutters Hungerkuren, kindliche Trennungsängste und Hin- und Hergerissensein zwischen den Eltern. Aus der Perspektive der erwachsenen Tochter in kurzen Zwischenkapiteln und im Zwiegespräch mit der Mutter dann die Rückschau, auch auf das Patriarchat: »Was machst du eigentlich den ganzen Tag?, wollte mein Vater wissen, als meine Mutter sich wieder einmal weigerte, nach Feierabend auf das Fahrradergometer zu steigen.«
Familie ist eben ein sprudelnder Quell für Inspiration, das wusste schon Tolstoi: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Wie sich Daniela Dröscher mit ihrer Herkunft und Familie literarisch befasst, ist gelungen und mutig. Und packender könnten die 1980er in einer Kleinstadt im Hunsrück kaum erzählt sein. Norma Cassau
448 Seiten
€ 24,-

Lea Ypi. Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag
Lea Ypi wurde 1979 in Tirana geboren, wuchs als Kind in dem festen Glauben auf, in einem der freiesten Länder der Erde zur Schule gehen zu dürfen, studierte später nach dem Zerfall des osteuropäischen Kommunismus Philosophie in Florenz und Rom und lehrt heute Politische Theorie an der London School of Economics.
In diesem Buch erzählt sie vom „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, vom Leben in einem der abgeschottetsten Länder des Ostblocks, von ihrer ungewöhnlichen Familie, in der eine Kindheit in Geborgenheit, Wärme, Klugheit und Abwesenheit von Drill sie zu der hat werden lassen, die sie heute ist. Dieses Buch ist eine lebendige Familienerzählung in Engführung mit der Geschichte Albaniens im 20. Jahrhundert, in dem Fragen nach Freiheit unter verschiedenen politischen Verhältnissen im Zentrum stehen, diese aber nie theoretisch bleiben. Sie begleiten die Menschen in ihrem täglichen Dasein und verlangen ihnen immer wieder die richtigen Entscheidungen ab. Ein überaus kluges, warmherziges Buch, lebendig erzählt, mitreißend humorvoll, stark aber nie verklärend. Wer mehr wissen möchte über das Leben in Albanien vor 1989 und nach dem großen Umbruch, der alles verändert hat, lese dieses Buch. Wen immer wieder die großen Fragen Freiheit wovon und Freiheit wozu umtreiben ebenfalls.
Silke Grundmann-Schleicher
332 Seiten
€ 28,-

Emine Sevgi Özdamar. Ein von Schatten begrenzter Raum
Suhrkamp Verlag
Dieser Roman wird mit fortschreitender Lektüre zu einem Zuhause. Das ist anarchistisch, denn die Hauptfigur zieht es rastlos durch ein krisengeschütteltes Europa. Ihre vier Wände wechseln stetig, aber ihre Träume und Begegnungen, auch die Sprache selbst werden zu Orten, an denen ein Leben möglich scheint. Jene besonderen Augenblicke fädelt Özdamar zu einer großen Erzählung auf und bedient sich dabei einer entrückt-poetischen oder unmittelbar-realistischen Sprache.
Eine türkische Schauspielerin spielt auf den großen Bühnen von Berlin und Paris, nachdem sie aus der Türkei geflohen ist. Die Engagements sichern ihr Monat für Monat die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Regisseure wie Besson und Peymann, Dichter wie Heiner Müller und Thomas Brasch haben ihren Auftritt. Trotzdem erschöpft sich das Buch nicht in der Darstellung einer Theater- und Literaturszene. Özdamar kartografiert den Lebensfluss einer Künstlerinnenexistenz, ohne die staatliche Repression in ihrer Heimat auszusparen. Gegen die politische Gewalt stellt Özdamar die Kraft der Kunst. Einer Kunst, die ins Leben eingreift, zum Leben wird: Freundschaft, Liebe, Verletzung und Abschied – diese Vorgänge poetisiert Özdamar, aber banalisiert sie nicht, denn es geht ihr am Ende um die ganz aktuelle Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens im alten und neuen Europa. Tristan Wagner
763 Seiten
€ 28,-

Iwan Schmeljow. Der Mensch aus dem Restaurant
Aus dem Russischen von Georg Schwarz, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Wolfgang Schriek, Die Andere Bibliothek
Skorochodow, der Schnellfüßige, trägt seinen Namen zu Recht, schließlich bedient er unauffällig und flink seit über zwanzig Jahren als Kellner in einem feinen Restaurant feine Gäste. Allzu fein sind die dann allerdings doch nicht, denn sie drücken gerne ihre Zigaretten an den unpassendsten Stellen aus, beschmutzen die Séparées, erbrechen den Stör à la provençale auf dem Korridor, lassen sich junge Mädchen kommen und stecken sich übriggebliebenes Obst und Nachtisch in die Taschen, bis die Hose feuchte Flecken hat. Die Prasserei der Herrschaften steht im krassen Gegensatz zum Leben Skorochodows, den ein Schicksalsschlag nach dem anderen ereilt: Sein Sohn gerät unter den Einfluss der Sozialrevolutionäre und wird verhaftet und verbannt, seine Tochter strebt nach sozialem Aufstieg und ist bereit, dafür ihren »guten Ruf« zu opfern, der Untermieter erhängt sich in der Wohnung, die Polizei macht Scherereien – und das ist noch längst nicht alles. Bei alledem wirkt Skorochodow lange verhältnismäßig ruhig, er ist tief mit den Hierarchien des zaristischen Russlands und dem orthodoxen Glauben verbunden und vertraut darauf, dass Gott es richten wird – ganz anders als seine Kinder, die überzeugt sind, alles selbst richten zu müssen. Ein Generationenkonflikt, wie man ihn aus Turgenews Väter und Söhne kennt. Neben den großartigen, grotesken Restaurantszenen ist vor allem die Sprache bemerkenswert. Aus der Bandbreite von religiös-philosophisch bis grob-mündlich entsteht eine Mischung, die anfangs kurios anmutet, aus der sich aber in der Übertragung des DDR-Übersetzers Georg Schwarz von 1968 eine bemerkenswerte Dynamik mit ganz eigenem Charme entwickelt. Ebenfalls sehr empfehlenswert sind die umfangreichen Anmerkungen sowie das gründliche Nachwort über das bewegte Leben des Autors und die Entstehung des Romans, der schon 1911 in Russland erschien und, wie viele Werke, erst mit der Perestrojka wiederentdeckt wurde. Über all diese Jahre und politischen Wandel dürfte sich doch eines nicht verändert haben: »Das ganze Leben – ein einziges Restaurant«! Norma Cassau
310 Seiten
€ 44,-

Damon Galgut. Das Versprechen
Aus dem südafrikanischen Englisch von Thomas Mohr
Verlag Luchterhand
Schon zum dritten Mal stand der südafrikanische Schriftsteller Damon Galgut auf der Shortlist für den Booker Prize, als er ihn 2021 für „Das Versprechen“ erhielt.
Es erzählt den Verfall einer weißen südafrikanischen Farmerfamilie, beginnend im Apartheitsregime in den 1980er Jahren bis zum Ende der 2010er Jahre. Die Erzählung wird durch die Todesfälle in der Familie strukturiert, die den Hinterbliebenen Anlass geben zusammenzufinden. Zu Beginn des Romans nimmt die todkranke Mutter der fünfköpfigen Familie ihrem Ehemann das Versprechen ab, der schwarzen Haushaltshilfe Salome, die sich mehr um sie gekümmert hat als ihre Angehörigen, das kleine Häuschen, in dem sie lebt, zu übereignen. Die jüngste Tochter Amor wird Zeugin des Versprechens, das über Jahrzehnte nicht erfüllt und bei jedem Trauerfall erneut zum Thema wird. Der Roman wird in einem stream of consciousness erzählt, wechselt dabei aber immer wieder die Perspektive. Galgut bleibt eng bei den weißen Protagonistinnen, die sich überwiegend selbst als Opfer der politischen Veränderungen betrachten und kein Bewusstsein für ihre Täterschaft und ihre Mitverantwortung am rassistischen System entwickeln. Entsprechend bekommt auch Salome keine Stimme. "Das Versprechen" porträtiert den Zustand der weißen Gesellschaft Südafrikas bissig und wortgewandt. Der Übersetzer Thomas Mohr hat es auf beeindruckende Weise geschafft, die nahtlosen Übergänge der Bewusstseinsströme in die deutsche Sprache zu übersetzen und den Humor Galguts beizubehalten. Christine Mathioszek
366 Seiten
€ 24,-

Fridolin Schley. Die Verteidigung. Roman
Verlag Hanser Berlin
Im November 1947 wurde in Nürnberg der sogenannte „Wilhelmstraßen-Prozess" eröffnet - angeklagt waren hochrangige Diplomaten aus dem Auswärtigen Amt, u.a. Ernst von Weizsäcker, seit 1938 in der NSDAP und SS und einer der ranghöchsten Diplomaten unter Ribbentrop und Himmler. Die Verteidigung übernahm Hellmut Becker, der in der späteren Bundesrepublik Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung wurde - an seiner Seite, sein Assistent Richard von Weizsäcker, der Sohn. Eine solche Konstellation muss man sich vergegenwärtigen: Der Sohn verteidigt den wegen schwerster Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagten Vater. Darüber hat Fridolin Schley einen dokumentarischen Roman geschrieben, der sich aller emotionalen Sprache enthält, sein Wissen und seine Beschreibungskraft aus Dokumenten, Aufzeichnungen, Protokollen und der nicht wenig vorhandenen Literatur zu dem Thema bezieht. Das liest sich atemberaubend, trotz der Sachlichkeit - wird hier doch ein Raum aufgeschlossen, den man auf diese Weise anders niemals hätte betreten können. Da werden Argumente und Gegenargumente aufgetürmt und es wird einem ganz schwindlig - spätestens bei dem Begriff „Widerstand durch Mitmachen“. Ernst von Weizsäcker wurde am Ende zu sieben Jahren Haft verurteilt und 1950 entlassen.
„Der Wahrheit ins Auge sehen“ - so formulierte es Richard in seiner berühmten 8.-Mai-Rede 1985 -; was mit der Wahrheit bei diesem Prozess geschah, sollten Sie unbedingt lesen! Eine kleine Zeitmaschine, die Sie an einen Ort versetzt, an dem Sie nie gewesen und unser aller Verstehen für den Verlauf von Deutscher Geschichte schärft. Das kann nur große Literatur und Kunst. sg
272 Seiten
24€

Natascha Wodin. Nastjas Tränen
Rowohlt Verlag
Als die Schriftstellerin Natascha Wodin in ihrer Westberliner Altbauwohnung ukrainische Musik auflegt, laufen ihrer kürzlich eingestellten Putzhilfe Nastja Tränen übers Gesicht. Unversehens steht Wodin damit am Anfang einer Geschichte, einer „Ost-West-Geschichte“ wieder einmal. Eine Geschichte wie ihre eigene, die Wodin schon innerlich befriedet glaubte. Doch die fremden gleichzeitig so vertrauten Tränen lassen die Autorin nicht kalt. Und so beginnt sie von Nastja zu erzählen, ihrer Vergangenheit und ihrem An- und Durchkommen in Deutschland.Nastja hatte in Kiew ein Studium zur Bauingenieurin begonnen und Roman kennengelernt. Zusammen verbrachten sie unbeschwerte Tage auf der Krim und beschwerliche Jahre in poststalinistischer Enge. Nach 1989 wurde ihre ökonomische Situation untragbar. Nastja nimmt also den Zug nach Berlin, allein.Dort angekommen lebt sie den Alltag einer Arbeitsmigrantin, der hautnaher kaum erzählt sein könnte. Nastja macht alles durch: Etliche Putzjobs, eine ausbeuterische Zweckehe, die drohende Abschiebung. Natascha Wodin hilft Nastja schließlich, sie organisiert, sie setzt sich ein. Und findet für Nastjas Schicksal eine nüchterne, fast sachliche Sprache, doch durchsetzt mit Momenten lakonisch-lichter Poesie. Diese Balance sowie der Einblick in das komplexe Verhältnis beider Frauen zueinander, machen Nastjas Tränen zu einem anrührenden gleichzeitig aufklärenden Stück realistischer Literatur. Ein wichtiges, wertungsfreies, und doch engagiertes Buch! tw
192 Seiten
22€

Douglas Stuart. Shuggie Bain
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Verlag Hanser Berlin
Es ist die Zeit der Massenarbeitslosigkeit der Bergleute im und um das niedergehende Glasgow der 1980er Jahre, die große Zeit von Margaret Thatcher. Shuggie Bain ist aus dem harten Stoff jener Gegensätze entstanden, aus dem schon Billy Elliott gemacht war, der Film über einen Jungen aus einer Arbeiterfamilie im nordenglischen Bergarbeitermilieu, der lieber zum Ballett als zum Boxen gehen möchte. Auch Shuggie Bain lebt von Gegensätzen. Wenn Agnes nach einigen Wodka und Bier aus der Teetasse in ihrem schönsten Queen’s English die unflätigsten Ausdrücke benutzt und im Nerzmantel das billigste Lagerbier einkaufen geht. Oder wenn sie in ihrem rosa Angora-Pullover mit den Glasperlen »glitzernd und flauschig am Boden liegt wie ein abgelegtes Partykleid«, weil ihr Mann sie verprügelt hat; wenn ihr kleiner Sohn Shuggie ihr in Krawatte und mit sorgfältig gescheiteltem Haar nach einer alkoholdurchtränkten Nacht den Eimer hinhält – und überhaupt gilt bei allem Elend immer: auf Agnes Kinder kommt kein Kohlenstaub, und wenn sie ihrer Mutter das Erbrochene vom Rock kratzen müssen.
Am Ende kann der kleine, zarte Shuggie in dieser verdrehten Welt seine schöne Mutter Agnes natürlich nicht retten, denn gegen den Alkohol kommt er nicht an. Aber wenn er sie auch verliert – seinen Stolz und seine Träume bewahrt er sich. Den Kopf immer schön erhoben halten, wenn der Hals auch dreckig ist - das hat ihm seine Mutter eingetrichtert.
Uns hat die Lektüre auch süchtig gemacht – nach mehr Shuggie Bain.
nc
494 Seiten
26€

Michael Krüger. Im Wald, im Holzhaus. Gedichte
Suhrkamp Verlag
„Was Gott so alles erlaubt, wenn der Tag lang ist...“
Gedichte des gut getarnten Mystikers Michael Krüger
„Es ist vielleicht nicht ganz falsch, Michael Krüger einen gut getarnten Mystiker zu nennen. Oder einen Schriftgelehrten am Ende aller Bücher, wo die Weisheit der Meister beginnt, jene närrische Weisheit, die ihr letztes Wort ins Wasser schreibt...“, so die Worte des hellhörigen Adolf Muschg im April 1986 (!) in seiner Laudatio auf den Peter Huchel-Preisträger Michael Krüger.
Neben vielem Gutgemeinten im übergangslosen Grenzgebiet von Literatur und Theologie ist die Stimme Krügers vom Vergnügen der Weltwahrnehmung geprägt, die für ihn unbeirrt „Schöpfung“ ist und deren Botschaften er in „närrischer Weisheit“ niederschreibt, deren schelmisch-klugen Züge und intellektuelle Schwerelosigkeit ihn zu einem einzigartigen Zeit-Genossen machen.
„Gott ist stark durch uns,/seine Lehre leicht, doch schwer zu leben,“ heißt es in „Hinter der Grenze“ (1989) – ein literarisch-theologischer Satz, lakonisch genau, die Bibel in zwölf Worten. Und 30 Jahren später, heute, schreibt er: „Hätte ich Zeit, würde ich jetzt die ganze Bibel noch einmal lesen, auf Knien.“ Der homme de lettres weiß, dass in der Bibel alle Romane schon einmal geschrieben sind...So meint es auch Muschg in seiner Preisrede, wenn er sagt, dass Krüger einem Horizont folge, den er „niemals einholen“ wird. Es ist eben wie in der Bibel: Es kommt immer zuviel dazwischen, „zwischen Bild und Bedeutung, Ich und Du, zwischen Lüge und Wahrheit, Leben und Tod. Von diesen Zwischen-Räumen handeln Krügers Gedichte.“ So auch die zwischen Leben und Tod jüngst erschienenen.
Gleich einem „Hieronymus im Gehäus“ auf dem Stich von Albrecht Dürer sitzt der Autor, geschieden von der Welt, im wörtlichsten Sinne „abgeschieden“, aber noch am Leben im Holzhaus im Wald, nahe dem Starnberger See, denn sein Immunsystem hat die „guten Tage hinter sich“. Eine Leukämie-Erkrankung zwingt, ja verurteilt ihn zu einer fugendichten Quarantäne: „Alles, was ich durch mein Fenster sehen kann...“ ist die erste Zeile des Bandes. Wer mitliest, muss in dieses Eremiten-Gehäuse, das ihm um des Lebenswillen zum Mittelpunkt der Welt wird. Anders als die klügste Kirchenvater der antiken Welt, Hieronymus (347 - 420), der mit seiner lateinischen Bibelübersetzung, der bis heute gültigen Vulgata, die das Christentum geprägt hat, der als einziger auch Hebräisch gelernt hatte, der (mit einer kleinen Frauenkommune!) im „Gehäus“ in Bethlehem sitzt und für eine gerechte Ordnung der Welt aufschreibt, was notwendig ist, anders als dieser sitzt Michael Krüger und denkt nach über die „vier Räder am Thronwagen Gottes: Unterscheidung, Einsicht, Gedächtnis und Freude.“ Anders und doch so nahe dem Hieronymus und dem Propheten Ezechiel, der das Bild vom vierrädrigen Wagen, dessen Räder in alle vier Himmelsrichtungen fuhren. Wie das geht? Ezechiel sah sie... Krüger notiert: „In dieser Zeit es gut, theologische Bücher
zu lesen.“
Im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen sie zuerst, Prosagedichte, Notate, Botschaften, lyrische Protokolle und die immer mitgehende Nachricht von der erzwungenen Vereinzelung, in der die Aufmerksamkeit für Bäume, Krokusse, Grünspechte, Grasmücken, Glockenblumen wuchs: „ Ich muss den Dingen eine Wahrheit geben, die sie von selbst nicht haben können, sonst geht alles ein. Ich auch...fünf Meter breit ist mein Fenster, vier Meter hoch, die Einstellung bleibt immer gleich, in Farbe.“ Ach, und „dazwischen schlucke ich meine bunten Pillen, deren Namen an aztekische Götter erinnern, Venclyxto oder Venetoclax...“ Er nimmt die Welt draußen wahr mit ihren alt-neuen Denkern, „unvorstellbare Spießer“, „keine Ketzer, Zweifler, Grübler, keine Abtrünnigen, Glatzköpfe in Lederhosen, die in meiner Heimat, Sachsen-Anhalt und Thüringen, Furcht und Zittern erzeugen wollen mit Plastikpistolen von Jahrmarkt...“ Dann doch eher Rabbi Akiba, der als Schriftgelehrter im 1. Jahrhundert über jedes Häkchen in der hebräischen Schrift Haufen und Haufen von Lehren vortrug! So kommt er durch die Tage, mit einem Talmudtraktat, Gedichten von Novalis, Listen von Plinius und immer als Maxime seines Aufschreibens gegen: Mittelmäßige Weitschweifigkeit...Die Losung vor Augen: „Jetzt bloß keine Angst kriegen und stehen bleiben.“ Am 9. Dezember wird er 78 Jahre alt. Großer Glückwunsch: Auf 120 Jahre und drei Monate! Drei Monate? Ja! Man will ja nicht so plötzlich sterben.
Dank an Michael Krüger im Wald, im Holzhaus. Nur nebenbei: Er soll schon wieder gesehen worden sein.
Helmut Ruppel
116 Seiten
24 Euro

Callan Wink. Big Sky Country
Suhrkamp Verlag
Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer
Ein Paar sitzt in der Abendsonne am See und einigt sich auf den Namen des Sohnes, der bald geboren werden wird. August soll er heißen, wie der Monat. So beginnt der Debütroman namens „Big Sky Country“ des jungen US-amerikanischen Autors Callan Wink. Eine Szene vollkommener Idylle.
Schon auf den nächsten Seiten aber wird klar: Die Ehe ist in die Brüche gegangen, Augusts Vater hat eine Affäre, seine Mutter versucht es mit Lichtnahrung. Alle drei wohnen sie aber noch auf der gemeinsamen Farm in Michigan. August wächst dort heran, doch zieht dann im Jugendalter mit der Mutter nach Montana, ins Big Sky Country. Nach der Highschool verdingt er sich als Hilfsarbeiter auf Bohrinseln und Bauernhöfen, während seine Mutter ihn lieber auf dem College gesehen hätte. Beim alten Farmer Ancient irgendwo im Niemandsland des Mittleren Westens wird er schließlich ansässig. August merkt jedoch bald, dass um ihn herum tiefere Konflikte schwelen. Warum wird Ancients Freundin Kim verleumdet? Warum stehen Schilder mit neurechten Parolen säuberlich arrangiert um das Haus seines Saufkumpels? Und will er diese alten Geschichten wirklich wissen? Eigentlich ist er doch nur hierhergekommen um sich mit körperlicher Arbeit zu betäuben. Um die Ereignisse des letzten Highschooljahres zu vergessen, über die er nicht sprechen kann.
Winks Roman erzählt nicht nur die Geschichte eines heranwachsenden Mannes mit all der Wirrnis, die die Adoleszenz mit sich bringt. Er erzählt auch die wechselvolle Geschichte Amerikas Ende des 20. Jahrhunderts auf sehr beiläufige wie präzise Weise. Die Bush-Ära, der 11. September, der Irakkrieg und das sich wandelnde Klima sind da einige prägnante Stichworte.
Auch sprachlich hat das Buch viel zu bieten. Wink komponiert sowohl scheinbar belanglose Dialoge und mechanisierte Arbeitsabläufe als auch prächtige Landschaften, Wetterlagen und furiose Szenen des Exzesses. Vor allem aber – und das macht den Roman aus – zeigt Wink, wie alle Vorstellungen und Handlungen, die August in seiner von verhärteten Männern bevölkerten Lebenswelt erlernt und übernommen hat, ihm nicht die Erfüllung bringen, nach der er sich sehnt. So sehr er es auch durch Einsamsein, Arbeiten, Trinken und Prügeln versucht. Anders als bei Hemingway oder Bukowski jedoch wird dieser Typus Mann nicht heroisiert. Vielmehr verkündet Wink dessen Abgesang.
Auf nachfolgende Werke des jungen Autors darf man daher durchaus gespannt sein. Tristan Wagner
320 Seiten
€ 24

Garry Disher. Barrier Highway
Unionsverlag
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Garry Dishers Reihe mit Constable Paul „Hirsch“ Hirschhausen spielt in Tiverton, einer fiktiven Kleinstadt in Südaustralien und zeichnet ein recht zermürbendes Bild des Lebens im Outback.
Auch im dritten Teil der Reihe verbringt Hirschhausen die längste Zeit seiner Tage im Auto, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, nach dem Rechten zu schauen und den Menschen in seinem Zuständigkeitsgebiet auch mal handwerklich behilflich zu sein.
Doch nach und nach eröffnen sich Risse in der vermeintlich ruhigen Gegend. Zunächst stiehlt jemand die Wäsche älterer Damen von der Leine, ein Fall von grober Kindesvernachlässigung wird aufgedeckt, ein Vater bedroht nicht nur den örtlichen Schuldirektor mit Waffen und einer der wenigen wohlhabenden Männer der Gegend erweist sich als skrupelloser Geschäftemacher.
So dramatisch die Umstände, so lakonisch präsentiert Disher dieses Bild einer zerrütteten Gesellschaft. Er setzt nicht auf Action und Hochspannung, sondern rollt den Teppich der Ereignisse langsam aus und die Landschaft Südaustraliens unterstreicht das Gefühl der Vereinzelung. Die Nachbarn mögen einen Kilometer entfernt leben, und dennoch kann man sich gehörig auf die Nerven gehen und an Gerüchten aufhängen. Die vielen vereinzelten Fälle dieses Bandes verdichten sich zu einem gesellschaftlichen Bild Südaustraliens, das erstaunlich leicht auf europäische Großstädte übertragbar ist.
Möge Garry Disher auch hier endlich die Leserschaft finden, die er schon lange verdient.
Als Gegenbild zu Constable Hirschhausen, der stets versucht, die Kontrolle zu bewahren und für rechtliche Ordnung zu sorgen, sei auch Dishers neue Reihe um Sergeant Auhl empfohlen, der sich um ungeklärte, archivierte Fälle kümmert und geneigt ist, das Recht großzügig zu interpretieren. (Garry Disher: Kaltes Licht. Unionsverlag, 313 Seiten,13.95 €, als Taschenbuch erhältlich) Christine Mathioszek
345 Seiten
22 Euro

Mariam Kühsel-Hussaini. Tschudi
Mariam Kühsel-Hussaini hat mit Tschudi ein wahres Kunstwerk geschaffen. Über 320 Seiten hinweg lernen wir Lesende das Berlin des Jahres 1896 und die Nationalgalerie mal durch die Augen ihres Leiters, Hugo von Tschudi, an dessen Seite Max Liebermann herrlich berlinert, mal durch die des Kaisers Wilhelm II. und dem zu ihm haltenden Maler Anton von Werner, kennen.
Zwischen Leidenschaft und Leiden zeichnet die Autorin das Porträt eines wahren Kunstkenners, der hinter seiner Maske immer weniger zu sehen sein wird, aber für die Sichtbarkeit der französischen Impressionisten und ihrer Farbgewalt kämpft. Wer schon einmal im Museum vor einem impressionistischen Gemälde gestanden hat, wird nicht umhin kommen, zu sehen, dass Kühsel-Hussainis Stil dem der Impressionisten nicht sehr fern ist. Ihre Worte haben Strahlkraft, elegant zusammengefügt und zu schwungvollen Sätzen vereint, bringt sie so eine komplexe Bildgewalt zu
Papier. Energetisch, poetisch, dicht, dann wieder lakonisch schlicht, berührend. Bunt durchmischt und unglaublich vielfältig ist das Vokabular von Kühsel-Hussaini, deren Sprach-Genius sich Seite für Seite entschlüsseln lässt und deren Intensität auch dann noch nachhallt, wenn der Roman schon längst seinen Platz im Bücherregal eingenommen hat. Antonia Truss
320 Seiten
€ 24

Amy Waldman. Das ferne Feuer
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
Wie schon in ihrem letzten Buch „Der amerikanische Architekt“ greift Amy Waldman in ihrem neuen Roman (Originaltitel: A door in the earth) ein in vieler Hinsicht aktuelles Thema auf.
Es erzählt von einer ehrgeizigen Berkeley-Studentin mit afghanischen Wurzeln, die in ihrem Heimatland Amerika um die Integration dieser beiden emotionalen und mentalen Kulturen in ihrer eigenen Person ringt. Ausgelöst durch die Lektüre des Buches eines engagierten amerikanischen Arztes über seinen humanitären Einsatz in Afghanistan (u.a. dem Bau einer kleinen Geburtsklinik im Hinterland) beschließt sie begeistert - durch eigenes Engagement - die Theorie von humanitärem Einsatz in einem fremden Land in die Praxis umzusetzen und bei der Gelegenheit, die Suche nach den eigenen Wurzeln aufzunehmen. Sie fliegt nach Afghanistan, um den verehrten Arzt zu unterstützen. Was sie allerdings vorfindet, ist ganz anders als erwartet. Ihr Aufenthalt führt zu großer Verunsicherung und gedanklicher Instabilität. Nicht nur, weil sie den Zusammenprall zweier extrem unterschiedlicher Kulturen erlebt. Sie stellt auch fest, das vieles von dem, was sich als idealistisches und hochherziges Projekt gab, in Wirklichkeit beinahe das Gegenteil ist. Zudem sind die Menschen, mit denen sie während ihres Aufenthalts zusammen lebt, äußerst misstrauisch.
Als Chefredakteurin des Südasienbüros der New York Times kennt die Verfasserin Afghanistan aus eigenem Erleben und kann drastisch klarmachen, dass man mit unseren westlichen Vorstellungen dieses Land kaum versteht.
Die Naivität und Gutgläubigkeit der Hauptfigur - und ihre daraus folgende moralische Verwirrung - ist der Faden, an dem die Autorin die Handlung mit ihren dramatischen Konsequenzen aufrollt. Dabei spart sie die Komplexität der kulturellen, politischen, religiösen und moralischen Umstände keineswegs aus. Sie zeigt, wie gefährlich gut gemeintes Eingreifen werden kann.
Sehr lesenswert, sehr erhellend und sehr packend erzählt! KP
496 Seiten
26€

RALF ROTHMANN. HOTEL DER SCHLAFLOSEN
€ 22,-

NICOLAS MATHIEU. ROSE ROYAL
€ 18,-

HELEN WOLFF. HINTERGRUND FÜR LIEBE
Anfang der Dreißigerjahre - in Deutschland sind Hitler und Hindenburg allgegenwärtig, als sich ein Paar aufmacht, den Sommer in Südfrankreich zu verbringen. Er, weltgewandt, selbstsicher, überlegen, Sie, seine 20 Jahre jüngere Geliebte, noch etwas unerfahren, verliebt und voller Vorfreude auf die gemeinsame Zeit. Doch schnell muss sie feststellen, dass ihrer beider Vorstellungen sehr voneinander abweichen, sie wird bevormundet, ihre Wünsche übergangen. Und so macht sie sich auf, ihren eigenen Weg zu finden und in einem kleinen, idyllischen Häuschen in Saint-Tropez ihre Träume zu verwirklichen...
Die Verfasserin dieses autobiographischen Romans, Helen Wolff, die als Verlegerin an der Seite ihres Ehemanns Kurt Wolff eine Legende wurde, hat ihre literarisches Werk zu Lebzeiten unter Verschluss gehalten. Ihre Großnichte Marion Detjen hat das mit dem Hinweis "At my death, burn or throw away unread" versehene Manuskript von "Hintergrund für Liebe" nun zur Veröffentlichung gebracht und mit einem umfangreichen, einordnenden Essay Versehen. Ein Glück für das Publikum, das nun in den Genuss dieser lebensfrohen, von Sinneseindrücken überbordenden Lektüre kommen, die ihre LeserInnen von Anfang an packt und in eine andere Zeit entführt. Ein wundervoller Roman, voller Intensität und Leichtigkeit! mk
216 Seiten
€ 20,-

Richard Ford. Irische Passagiere
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Verlag Hanser Berlin
„Das war typisch Maine, diese Aura von Ereignissen, die man gerade eben nicht mehr sehen konnte. Heimlich, aber eigentlich nicht geheim.“
Richard Ford lebt in Maine, und in seinem jüngsten, jetzt vierten Erzählungsband schärft er (wieder einmal) den Blick für die psychischen und moralischen Muster hinter den scheinbar glatt sich abspulenden Lebensläufen seiner konventionellen Figuren. Die meisten Mittelstandsamerikaner mit irischen Wurzeln, sind sie alles andere als in sich gekehrte, vom Leben gebrochene Charaktere. Sie geben durchaus gern etwas von sich preis, sind pragmatisch agierende Passagiere im eigenen Leben, die sich mit den anfallenden Gegebenheiten arrangieren wollen.
„Seiner Meinung nach passierten die meisten Ereignisse so, wie sie sollten.“
Eigentlich kann ihnen nicht viel passieren, in der breiten Spanne ihrer Lebensmitte. Profitable Berufe und abbezahltes Eigentum geben Sicherheit, „das Leben versuchte gut zu verlaufen“. Und dann passiert ihnen doch etwas: Ehescheidungen, Affären, überraschende Todesfälle, angeknackste Eltern-Kind-Beziehungen. Wie sie in die Wirren ihrer bürgerlichen Biografie geraten und sich dort einrichten, daraus leiten die Figuren nur jene Erkenntnisse ab, die ihre Gewissheiten nicht allzu sehr in Frage stellen. Schmerzen und Verluste stehen einer Lebensroutine gegenüber, an der sie oft mit einer coolen Unbedingtheit festhalten. Hauptsache weitermachen.
„Etwas geschieht und scheint das ganze Leben zu verändern, und dann raspelt sich alles zum erträglichen Maß zusammen.“
Richard Fords Kunst besteht gerade darin, seine Figuren in ihrem Weiter-so nicht nur mit kritischer Klarheit zu beleuchten. Über die Risse und Unwuchten in ihrer gut und situiert scheinenden Existenz schreibt er mit einer Zärtlichkeit und einem Blick des Mitgefühls, derer sie so sehr bedürfen. Als Leserin und Leser erfährt man nur ein Bruchstück ihrer Biografie, deren Kipppunkte und daraus resultierenden emotionalen Konsequenzen der Autor sprachlich meisterlich erfasst. Literatur, sagt Richard Ford, kann einen dazu bringen, sich mehr für das eigene Leben zu interessieren. Und es tröstlicher zu betrachten, möchte man nach diesem Buch hinzufügen.
be
288 Seiten
€ 22,-

Fabio Andina. Tage mit Felice
Aus dem Italienischen von Karin Diemerling
Rotpunkt Verlag
Es passiert nicht viel in diesem Buch. In einem Bergdorf im Tessin, in dem nur wenig Leute leben, in dem ein Bauer noch die letzten Kühe hat, in dem allerdings auch eine Bar gibt, lebt der neunzig Jahre alte Kauz Felice. Diesen begleitet eine Woche lang der moderne junge Ich-Erzähler in diesem kleine Roman und passt sich dessen Lebensgewohnheiten an. Beinahe vor Sonnenaufgang, meist vor dem ersten Hahnenschrei steht der Alte auf, geht meist barfuß in den nahegelegenen Kiefernwald, um in einer sogenannten Gumpe ein kaltes Bad zu nehmen, auch bei Regen, auch bei Schnee. Danach hackt er Holz, sammelt Früchte, sucht Pilze, besorgt Käse. Im Zuge dieser Entschleunigung erlebt der junge Mann, was wirkliche Dunkelheit ist, erlebt bisher ungehörte Stille, nimmt mit allen Sinnen die Natureindrücke wahr und erfährt manch anderes Geheimnis von dem wortkargen alten Mann – und die Lesenden mit ihm. Dieses handlungsarme Buch über ein in die Natur eingebettetes Leben ohne Ablenkung ist übrigens niemals langweilig, im Gegenteil, es ist eine beglückende Lektüre! kp
240 Seiten
€ 24,-

Anne Weber. Annette, ein Heldinnen-Epos
Leicht lesbar, auf traditionelle Reimform und strenges Versmaß verzichtend, weder ausschweifend noch überladen, hinreißend frei im Umgang mit Tradition und Regeln unterläuft Anne Weber all diese, unsere Vorstellungen und Bilder, wenn wir das Wort (Heldinnen)Epos lesen.
Sie hätte sich nicht vorstellen können aus der Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir einen traditionellen Roman zu machen, zu wenig Distanz und am Ende zu wenig Freiheiten, was das Schreiben betrifft, sagt sie in einem Interview.
So lesen wir eine hinreißende Erzählung über eine mutige, unerschrockene Frau, die mit nicht einmal achtzehn Jahren in den französischen Widerstand schlittert, mit dem Fahrrad kleine Päckchen von hier nach da transportiert und dann mit diesen unauffälligen Fahrten und den ersten „klandestinen“ Treffen plötzlich mittendrin steckt in einem Leben und Tun, dass nicht immer das Recht auf seiner Seite weiß - aber die Gerechtigkeit.
Der aktive Kampf in der Résistance gegen fremde Besatzer wird nach dem Krieg geadelt, was aber, wenn man gegen das eigene Volk als Besatzungsmacht in Algerien erneut in den Widerstand geht? Annette hat ihre festen Überzeugungen und ihr Tatendrang scheint schier ungebremst. Der Staat antwortet mit Gefängnis, Annette mit Flucht.
„Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos (Annette) am besten glücklich vorstellen."
Ein Buch, so klug wie herausfordernd, so frisch wie radikal - ein unvergessliches Leseabenteuer. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2020. sg

Giulia Caminito. Ein Tag wird kommen
Wagenbach Verlag
Caminito fand den Romanstoff in der Geschichte ihrer eigenen Familie, insbesondere ihr Urgroßvater stand dafür Modell, aber auch die noch heute im Kloster von Serra de Conti verehrte Äbtissin Zeinab Alif alias Maria Giuseppina Benvenuti. Geschickt verquickt die Autorin ihre Fiktion mit der Geschichte Italiens – mit der anarchistischen Bewegung, dem Ersten Weltkrieg, Mussolini und der Spanischen Grippe, über die sie schreibt: »Drei Tage genügten und Addio, am ersten Tag kam das Fieber, am zweiten barst einem die Lunge, und am dritten bekam man keine Luft mehr.« Ja, das kommt uns bekannt vor.
Eine tolle Empfehlung für alle Gerneleser von Francesca Melandri.nc

Denis Osokin. Goldammern
Adebar ist Fotograf im Papierkombinat von Neja im Verwaltungsbezirk Kostroma. Als sein Direktor Miron ihn bittet, ihm behilflich zu sein, nach Art der Merja seine vergangene Nacht verstorbene Frau Tanja zu verbrennen, ist er einverstanden. Gemeinsam ziehen sie Tanja aus und wieder an und flechten ihr, wie bei den Merja üblich, bunte Bänder ins Honig-und-Brot-Haar. Mit der »tief toten« Tanja auf der Rückbank, und zwei Goldammern, die Adebar zuvor auf dem Markt gekauft hatte, fahren sie los ans Ufer der Oka. Dort war Miron mit Tanja einst als junger Mann im Honigmond glücklich - und auch das gehört zur Tradition: viel »Rauch machen« und vom Honigglück erzählen.
So wie die Goldammern sind auch die anderen Geschichten von Denis Osokin - voller Fantasie und Poesie flattern sie traumgleich über der Wirklichkeit und werden von geografischen und ethnischen Koordinaten nur scheinbar am Boden gehalten und in der Realität verankert.
Goldammern, das vom ciconia Verlag in einer geschmackvollen, limitierten Ausgabe mit hübschen schwarz-weißen Abbildungen herausgebracht wurde, war schon als „Stille Seelen“ auf Festivalleinwänden erfolgreich. Nun hoffentlich als Buch. Es sei allen Bibliophilen, Neugierigen, Fans der russischen Avantgarde und Lesern der Lyrik ans Herz gelegt, und ebenso allen, die wissen möchten, was das weite Russland außer Putin noch zu bieten hat.

Anne Carson. Rot. Zwei Romane in Versen
S. Fischer Verlag
Ja, richtig gelesen. Und nein, Herkules stiehlt diesmal keine Rinderherde von der Insel Erytheia. Ganz im Gegenteil. Herkules ist ziemlich beschäftigt, die Welt mit seinem Charme um den Finger zu wickeln und dabei seiner Abenteuerlust nachzugehen.
Die kanadische Altphilologin und Dichterin Anne Carson taucht alte Mythen in ein neues Licht: Sie ermächtigt sich mythischer Figuren und erzählt eine andere Geschichte in Versform. Das geschieht in einer sprachlichen Kunstfertigkeit (kongenial übersetzt von Anja Utler), der man selten begegnet. Andauernd muss man pausieren, die letzten Verse repetierend, damit man auch nur nichts verpasst, denn die Assoziationsräume sind grenzenlos. Grenzen kommen sowieso nicht vor, nicht im Text und auch nicht in der Form. Ein absoluter Lesegenuss für Abenteuerlustige. hd

Isabelle Mayault. Eine lange mexikanische Nacht
Isabelle Mayault, die für ihre feministischen Reportagen bekannte französische Journalistin, erzählt in ihrem ersten Roman von der geheimnisvollen Reise dieses Koffers. Unbemerkt gelangt er in den politischen Wirren der Zeit von Europa nach Mexiko und wechselt dabei mehrmals den Besitzer, um dann Jahrzehnte später in New York wieder aufzutauchen. Mayault beschreibt mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit die sehr angespannte und komplexe gesellschaftliche und politische Lage, die in den 30er und 40er Jahren in Europa herrschte, und fängt damit dennoch gekonnt die Stimmung des Spanischen Bürgerkriegs ein. Ihre Geschichte und auch der Hauptcharakter Jamón sind geprägt von starken Frauen, die ihr eigenes Schicksal und damit auch das Schicksal der Welt in die Hand nehmen.
Mit ihrer weltoffenen und einfühlsamen Erzählweise hat Isabella Mayault es geschafft, für „Eine lange mexikanische Nacht“ mit dem Prix Ulysse du Premier Roman 2019 ausgezeichnet zu werden. hw

Christine Wunnicke. Die Dame mit der bemalten Hand

Thilo Krause. Elbwärts
Später, nach der Wiedervereinigung und im Erwachsenenalter, kehrt der Ich-Erzähler mit der neugegründeten Familie zurück in die Provinz und will die Wiederaufnahme der Freundschaft. Doch die Zeiten, sie sind andere.
Thilo Krause streift aktuelle gesellschaftlichen Fragen des oftmals als abgehängt erklärten Ostens nur implizit. Seine Hauptfigur ist ein moderner Sinnsucher in Gestalt des natureuphorischen Romantikers. Wunderbare Gebirgs- und Wanderbeschreibungen durchziehen das Buch, immer wieder durchbrochen von Erinnerungen an die Spätphase der DDR und das heutige Ankommen in der Provinz. Als sich Krauses Hauptfigur langsam in eine Sackgasse aus Erinnerungslasten und demVerlust seiner engsten Liebsten manöviert, rollt ein Hochwasser die Elbe hinab auf das Dorf zu.
Doch es scheint noch einen Ausweg zu geben...
„Elbwärts“ verhandelt große Themen wie Freundschaft, Zugehörigkeit und biographische Brüche in einer sehr unaufgeregten Weise und ist zudem in einer sehr feinen poetischen Sprache geschrieben. tw
€ 22,-

Sebastian Barry.Tausend Monde
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag
€ 24,-

Richard Middleton. Das Geisterschiff
Steidl Verlag
Es sind dreizehn kurze Erzählungen, die mitunter daherkommen wie Sagen, Märchen oder alte Gruselgeschichten. Es sind Erzählungen von Menschen, denen etwas Seltsames widerfährt, die an den Rändern des Lebens unterwegs sind. Dort, wo sich eine vermeintliche Realität mit anderen Dingen vermengt. Doch trotz aller Abwegigkeit und dramatischem Geschehen, blitzt hie und da auch ein Funken Humor auf.
Beim Lesen hört man fast die Stimme der alten Frau am Feuer, die einem gerade diese Geschichte erzählt, so dass man mit einem leichten Schaudern im Rücken ins Bett gehen muss.
Richard Middletons Leben war weder von großem Glück noch von großem Erfolg gekrönt. Erst nach seinem Tod wurde er bekannt. Das tat seinem Drang zu schreiben keinen Abbruch. Zum Glück für die heutigen Leser.
€ 18,-

Chris Kraus. Scherbentanz
Im Nachwort zur Neuausgabe seines Erstlings erzählt der Autor, wie er damals mit seinem Freund Volker Schlöndorff zu Günter Grass fuhr und diese Begegnung zum Anlass für das vorliegende Buch wurde. Hinreißend erzählt! kp
€ 22,-

Young-Ha Kim. Aufzeichnungen eines Serienmörders
Cass Verlag
Als er den Täter zu erkennen meint, von dem auch er sich durchschaut glaubt, setzt er es sich zur Aufgabe, ihn umzubringen, um seine Tochter zu retten, deren Leben er in Gefahr sieht.
Auf nur 152 Seiten folgt man den Anstrengungen des Mannes, in der Gegenwart verankert zu bleiben und liest mit Vergnügen seine Betrachtungen des Daseins, die interessante Parallelen zwischen Mord und Literatur ziehen. Sein letzter Auftrag wird zu einem Wettlauf mit der Zeit und sich selbst, da er zunehmend verunsichert ist, ob er sich auf seine Zuordnungen der Ereignisse noch verlassen kann. Das hält auch den Leser in Atem und führt zu unerwarteten Entwicklungen. In seiner Dichte und mit den philosophischen Einstreuungen des Erzählers sind diese Aufzeichnungen viel mehr als ein Krimi.
Zudem ist das Buch außergewöhnlich schön gestaltet und mit den Erinnerungen des Erzählers verblassen auch die Seitenzahlen im Verlauf des Buches. cm
€ 20,-

Guillermo Martinez. Der Fall Alice im Wunderland
Eichborn Verlag
„Der Fall Alice im Wunderland“ ist ein klassischer „Whodunit“ und besonders reizvoll, da er sich auf tatsächliche Forschungsansätze zu Lewis Carroll bezieht, über den man hier nebenbei eine Menge erfährt, und es mühelos schafft, das Oxford der 1990er Jahre, einer Zeit ohne Mobiltelefone und Internet, so nostalgisch erscheinen zu lassen als bewege man sich in der Zeit Lord Peter Wimseys.
Ein sehr britischer Krimi des argentinischen Mathematikers und Schriftstellers Guillermo Martinez, der selbst in Oxford studiert hat und in der Tradition Agatha Christies und Arthur Conan Doyles schreibt. cm
€ 16,-

BEN LERNER. DIE TOPEKA SCHULE
Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl
Zu Beginn des Romans sitzt Adam Gordon, ein redegewandter Highschool-Absolvent, eigentlich romantisch, mit seiner Freundin in einem Boot, hält ihr eine Rede und merkt nicht, wie sie ihm buchstäblich entgleitet. Sie verlässt das Boot und schwimmt an Land, was ihm erst auffällt, als er seinen Vortrag beendet hat und dessen Wirkung auf sie sehen möchte. Fast empört macht er sich auf die Suche nach ihr, zu guter Letzt auch noch im falschen Haus, ein Umstand, der ihm erschreckend spät auffällt, nämlich auf der Toilette im unvertraut wirkenden Badezimmer ihres vermeintlichen Zuhauses.
Dies ist eine gewitzte Einführung in eines der Hauptthemen dieses Romans – die Sprache. Hier als ungeeignetes Mittel männlicher Selbstprofilierung, in späteren Kapiteln als Mittel der Gewalt, der Verständigung und der politischen Rhetorik, die Inhalte nebensächlich werden lässt.
Ben Lerner, Sohn der bekannten feministischen Psychotherapeutin Harriet Lerner und vor allem als Lyriker bekannt, zeichnet in seinem dritten autofiktionalen Roman mit viel Selbstironie ein Bild der weißen US-amerikanischen Mittel- und Oberschicht in den 1990er Jahren, die er als Wegbereiter für die heutige politische Situation in den USA ausmacht. Zugleich erzählt er eine berührende Familiengeschichte, die Hoffnung auf positive Veränderungen erlaubt und bleibt sich dabei stets bewusst, dass er nur für einen bestimmten, privilegierten Teil der Gesellschaft sprechen kann, dem er selbst entstammt. Und das ist nur ein Aspekt dieses spannenden Buches, das man gerne gleich nochmal lesen würde und über das man sich unbedingt mit anderen austauschen möchte. Sehr lesenswert. Christine Mathioszek

ANDREAS SCHÄFER. DAS GARTENZIMMER

RONYA OTHMANN. DIE SOMMER
€ 22,-

Davide Longo. Die jungen Bestien
Rowohlt Verlag
Vincenzo Arcadipane, piemontesischer Kommissar mit Potenzproblemen und unkontrollierbaren Weinkrämpfen, wird zu einem Massengrab gerufen, das auf der Neubaustrecke des Schnellzugs entdeckt wurde, doch wird er des Falls schneller enthoben als er ein Lakritzbonbon lutschen kann. Kurzerhand werden die Skelette als Kriegsopfer deklariert und sämtliche Beweisstücke eingezogen. Arcadipane ist skeptisch und wendet sich an seinen alten Chef Bramard, der aus der italinischen Geschichte heraus eigene Ideen zu den Hintergründen hat.
Als junger Polizist wurde er in den bleiernen Jahren der 1970er und 1980er in die politische Abteilung berufen und muss sich nun erneut mit den Zusammenhängen und Auswirkungen dieser Zeit auseinandersetzen, die bis in die Gegenwart reichen. Gemeinsam mit einer kalt gestellten jungen Kollegin schaffen Arcadipane und Bramard es, etwas Licht in die Geschichte zu bringen. Den politischen Verwicklungen stehen die privaten Probleme der Männer gegenüber, die von den Frauenfiguren mit Witz, Muße und Skurrilität konfrontiert werden.
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen und experimentiert mit den Leseerwartungen, indem er beispielsweise mehrere Prologe einschiebt. Dennoch ist man sogleich im Geschehen, da Davide Longo so eindringlich erzählt, dass man direkt auf der ersten Seite mit dem Kommissar und seinem Team im Regen steht und einem die Nässe durch die Kleidung dringt.
Zudem ist der Roman eine interessante Annährung an die jüngere, noch immer nicht aufgeklärte, Geschichte Italiens.
410 Seiten
€ 22,-

DEEPA ANAPPARA. DIE DETEKTIVE VOM BHOOT-BASAR
Mit seiner schlauen Freundin Pari und seinem muslimischen Freund Faiz streift Jai auf der Suche nach Spuren durch den riesigen, verschlungenen Bhoot-Basar. Gemeinsam mit dem liebenswerten Suchtrupp spähen wir in die ärmlichen, beengten Hütten, träumen von der HiFi-Welt, die sich hinter der stinkenden Müllkippe, auf der man N°1 und N°2 verrichten kann, glitzernd in den Himmel reckt, fahren mit der Purple Line in die große Stadt und lernen allerlei indisches Leben kennen.
Gezuckerte Fenchelsamen, Mangopulver, mit Kardamom bestrichene Süßkartoffeln, Samosas und Biryani ziehen sich durch den Text, aber auch Elend, Schmutz, Korruption und dichter Smog. Bis zum Schluss scheint vieles möglich, bis, ja, bis Runu-Didi verschwindet, Jais Schwester.
Ein durch und durch sympathisches Buch, dessen Autorin und Übersetzern es auf wundervolle Weise gelingt, uns eine wirklich fremde Welt näher zu bringen. Die erzählerische und stimmungsvolle Leichtigkeit ist umso bemerkenswerter, wenn man weiß, dass der Roman einen schrecklich wahren Hintergrund hat.
Wir sagen okay-tata-bye* und wünschen dir viel Glück, kleiner Jai! NC
€ 24,-

Gabriele Tergit. Effingers
Schöffling Verlag
Am Beginn des großen Epochenromans „Effingers“ der Schriftstellerin und Gerichtsreporterin Gabriele Tergit steht ein Brief. Es ist das Jahr 1878 und der siebzehnjährige Paul Effinger schreibt an seine Eltern in der süddeutschen Provinz vom großen Aufschwung. Er berichtet von seinen Erlebnissen als Arbeiter in der rheinländischen Industrie. Später geht er nach Berlin, wird Fabrikant, produziert die Effinger-Motoren und heiratet in die großbürgerliche Familie Oppner ein. Es ist die neue Zeit und der „Fortschritt“ die Losung der Stunde!
Am Ende des Romans schreibt der nun einundachtzigjährige Paul Effinger an seine Enkel, wünscht ihnen dass sie alle Schrecken überstehen mögen. Es ist das Jahr 1942, er wartet auf seine Deportation. Seine Fabrik ist nun ein Rüstungskonzern der Nazis.
Zwischen diesen beiden Briefen entfalten sich siebzig Jahre deutscher Geschichte von der Kaiserzeit, über den ersten Weltkrieg und Weimarer Republik bis zum Aufstieg der NSDAP und dem 2. Weltkrieg. Die Mitglieder der jüdischen Familien Oppner, Goldschmidt und Effinger bilden das Figurenarsenal, ihre Verwobenheit die immerwährende Konstellation des Romans. In ihnen spiegeln sich die kulturellen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse wie auch die Denkgebäude der Zeit.
Paul Effinger ist ein rechtschaffener Kaufmann, den Idealen von Sparsamkeit und Ehrlichkeit verpflichtet. Sein Schwiegervater hatte noch in der Revolution 1848 gekämpft. Seine Tochter Lotte und seine Nichte Marianne hören Vorträge in den Frauenverbänden und sehen sich dem Sozialismus und später dem Zionismus nah.
Tergits Epos gleicht einer Drehbühne mit offenen erzählerischen Räumen, in denen jedes Schicksal seinen Platz bekommt. Tergit setzt harte Schnitte, komponiert schnelle Dialoge. Doch die Momente des Lebens – das sonntägliche Familienessen, das erste Verliebtsein, die pompöse Heirat, der Abschied von einem geliebten Menschen – werden bewahrt, vor allem in den konkreten Dingen: in Interieur, Kleidung, Accessoires, Architektur, Speisen, Kunst, dem Berliner Stadtbild.
Nichts ist hier bloße Kulisse. Es ist eine versunkene Welt, die vor dem lesenden Auge wieder auflebt und am Ende doch in Schutt und Asche liegt. Es ist ein großes Verdienst des Schöffling Verlages dieses Stück jüdisch-deutscher Geschichte – gespiegelt in eindrucksvoller Literatur – wieder erlesbar gemacht zu haben. tw
904 Seiten
€ 28,00
Ab September 2020 im Tachenbuch für € 14,00

Peter Schneider. Vivaldi und seine Töchter
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Schon als Schüler, selbst Geige spielend, war Peter Schneider fasziniert von Vivaldis Musik. „Vivaldi und seine Töchter“ ist sein Erinnerungsbuch für den Kameramann und Freund Michael Ballhaus, dessen Plan, Vivaldis Töne filmisch in Bilder zu bannen, ihm nicht mehr gelang. Vor allem aber ist es das spannende Porträt des Menschen Vivaldi, zerrissen zwischen seinen kirchlichen Pflichten als Priester und seiner musikalischen Berufung und Leidenschaft.
Vivaldis zentrale Wirkungsstätte in Venedig war das „Ospedale della Pietà“, ein auch in der damaligen Zeit besonderes Waisenhaus, wo er mit den musikalisch begabten Schülerinnen als Lehrer und Dirigent arbeitete. Viele der Kantaten, Sonaten und Konzerte komponierte er für „seine Töchter“ - nicht nur für die Geige, die er selbst virtuos spielte, sondern auch für damals wenig beachtete Instrumente, z.B. die Trompete. Unter seiner Leitung wurden Mädchenchor und -orchester berühmt, um sie zu hören, reisten aus ganz Europa Fürsten und Musikbegeisterte nach Venedig. Ohne sich in folkloristisch/voyeuristische Schilderungen zu verirren, gelingt es Peter Schneider, die Balance zu finden zwischen der biographischen Erzählung und der sorgfältig recherchierten Beschreibung des venezianischen Lebens zu Beginn des 18. Jh., den Machtansprüchen von Kirche und Serenissima und den harten Bedingungen musikalischen Schaffens der Zeit.Peter Schneider hat einen spannenden Roman geschrieben, im Zentrum immer Vivaldi und seine Musik, über die er mit großem musikalischem, anregendem Wissen schreibt, ein Vergnügen zu lesen und Lust machend, Vivaldis Musik wieder zu hören. rg

Marko Martin. Dissidentisches Denken

Jami Attenberg. Nicht mein Ding
€ 22,00

Yishai Sarid. Monster
176 Seiten
Ab April 2020 im Taschenbuch für € 12,00

Michael Lüders. Die Spur der Schakale
394 Seiten
€ 17,50

ALEXANDER OSANG. DIE LEBEN DER ELENA SILBER

VALERIA LUISELLI. ARCHIV DER VERLORENEN KINDER
Kunstmann Verlag
€ 25,00

SIBYLLE LEWITSCHAROFF. VON OBEN
Bei einer Autorin, bei der Spott und Kontroverse so oft nah beieinander liegen, ist dies Buch verblüffend diskret und zart. Ich wünsche ihm viele Leser. Klaus Palme
€ 24,00

JACKIE THOMAE. BRÜDER
Hanser Verlag
Mick und Gabriel kennen sich nicht und auf ersten Blick wirken sie grundverschieden. Aber sie sind Brüder, Halbbrüder. Ihr Vater, ein Austauschstudent aus Senegal, bleibt nicht. Er geht zurück, um sich erst vierzig Jahre später wieder zu melden.
Man liest begierig beider Geschichten, verfolgt ihren Weg bis zur Lebensmitte. Die Figuren gehen einem nah und werden zu Personen, die man näher kennenlernen möchte. Das ist nur eine der großen Stärken dieses Buches. Denn Thomae lässt auch Berlin wiederauferstehen, als es noch eine riesige Versuchsanordnung war, von vielen Glücksrittern bevölkert wurde und niemand etwas mit den Begriff Gentrifizierung anfangen konnte. Mick nämlich, ist einer dieser Glücksritter, zur richtigen Zeit (90er Jahre) am richtigen Ort (Berlin natürlich) lässt er sich durch sein Leben treiben, ohne Ziel aber mit viel Spaß dabei.
Gabriel dagegen arbeitet, sehr viel, irgendwann zu viel. Er macht eine beeindruckende Karriere in London und versucht sein Leben planvoll zu gestalten. Klar, dass das irgendwann schief geht, oder doch nicht?
Leichtfüßig und elegant geschrieben, dabei keine Klischees bedienend, ist hier eine Philanthropin am Werk, die ihr Handwerk versteht. Denn am Ende des Buches angelangt, zwickt es einem im Gemüt, da man Mick und Gabriel nun verlassen muss und man doch hofft, einen von ihnen an der nächsten Ecke zu treffen. hd
429 Seiten
€23,00

STIG SÆTERBAKKEN. DURCH DIE NACHT
Dumont Verlag
Dieses Buch bleibt lange im Gedächtnis. Es ist eine Reise in die dunkelsten Gefilde der Seele.
Ein Mann, angetrieben vom Selbstmord seines Sohnes, driftet aus seinem saturiertem Dasein in eine existentielle Krise.
Die literarische Qualität des Textes ist hoch, Sæterbakkens Können offensichtlich. Der Text entfaltet eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Man begleitet den Protagonisten auf dieser Reise und wird dabei konfrontiert mit seinem Versagen, seiner Ehrlichkeit und seiner Selbstzerfleischung. Daneben erfährt man auch von den guten Zeiten und glücklichen Tagen, die mit einer solchen Zartheit und Grazilität erzählt werden, dass es einem fast das Herz zerreißt.
Es bleibt zu hoffen, dass auch die anderen Werke Sæterbakkens in Deutsche übertragen werden. hd
288 Seiten
€ 22,00

RAYMOND QUENEAU. ZAZIE IN DER METRO
Aus dem Französischen von Frank Heibert
Suhrkamp Verlag
Queneau erzählt in „Zazie in der Metro“ die Geschichte einer rotzfrechen Göre aus der französischen Provinz, die von ihrer Mutter bei ihrem Onkel Gabriel in Paris abgeliefert wird, um sich ein Wochenende mit ihrem Liebhaber zu gönnen. Zazies einziger Wunsch ist es, mit der Metro zu fahren, die ausgerechnet an diesem Wochenende bestreikt wird. Aus Langeweile büxt sie aus und erkundet die Stadt auf eigene Faust. Dabei hat sie kuriose Begegnungen mit zahlreichen dubiosen und schrägen Charakteren. Wiedervereint mit ihrem Onkel machen er und sein Freund Charles eine Stadttour mit ihr, auf der Gabriel von einer begeisterten Touristengruppe entführt wird. Nun machen sich Zazie, Charles und zwei neue, aufgelesene Bekannte, auf die Suche nach ihm. Nach einem dramatischen Showdown am Ende des Buches und eines langen Tages verpasst Zazie die lang ersehnte Fahrt mit der Metro, da sie sie verschläft.
60 Jahre nach dem Erscheinen dieser nicht stringent erzählten, atemlosen Geschichte, die einem sprachlichen Feuerwerk gleicht, hat Frank Heibert eine neue Übersetzung vorgelegt. Einerseits geht er freier mit dem originalen Text um, indem er beispielsweise Namen verändert, andererseits zeigt er sich weniger zurückhaltend bei der Übersetzung von Kraftausdrücken und Umgangssprache als die erste deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1960. Auch in der Übersetzung Eugen Helmés von 1960 bleibt der Roman noch heute modern, - Zazie ist und bleibt ein frappierend respektloses und wortgewandtes Mädchen, einige Charaktere wechseln ohne nähere Erklärung Persönlichkeit, Namen oder Geschlecht, - doch die Übersetzung Heiberts ist temporeicher, und der spürbare Spaß des Übersetzers an der Sprache an sich sowie an der surrealen Handlung überträgt sich auf den Leser und die Leserin.
Der Neuübersetzung des Romans sind zudem zwei Kapitel aus Queneaus Manuskripten hinzugefügt, in denen Zazie endlich zu ihrer Metrofahrt kommt. Diese Kapitel sind eine unterhaltsame Ergänzung und literaturwissenschaftlich interessant, da sie Einblick in die verworfenen Ideen Queneaus erlauben. Gleichzeitig zeigen sie auch, warum er sich gegen die Aufnahme der Kapitel entschieden haben mag, nicht nur, weil sie dem Titel den ironischen Witz genommen hätten.
Man kann es mit dem sprechenden Papagei Laverdure halten, der immer wieder kommentiert: „Du quatscht und quatscht, sonst hast du nichts zu bieten“. Das aber mit Bravour und unbändigem Spaß an der Sprache.
Christine Mathioszek
239 Seiten
€ 22,-

BARBARA HONIGMANN. GEORG
Wir können der Geschichte nicht entfliehen, erst recht nicht der eigenen. Barbara Honigmann hat es in all ihren schmalen, aber sehr intensiven Büchern verstanden, sich ihrer selbst über das Ergründen der Eltern zu vergewissern. Das jetzt erschienene Buch über ihren Vater Georg ist eine nachgetragene Liebeserklärung, die begreiflich macht, wie sehr wir mit der Geschichte unserer Eltern verklammert sind, wie nah wir ihnen kommen können, wenn wir auch ein Stück weit zulassen, sie niemals ganz ergründen zu können. Georg Honigmanns Biografie ist für einen Teil der Deutschen des 20. Jahrhunderts geradezu exemplarisch: assimilierter Jude, Freidenker, Verfolgter des Naziregimes, Emigrant, Kommunist, Rückkehrer, nirgendwo richtig zu Hause, für die DDR, in die er aus Überzeugung zog, zu elegant, zu weltläufig, zu frei- und feingeistig, zu wenig tatkräftig. Gleichwohl ordnete er sich der Partei unter und litt und war auch privat oft sehr unglücklich. Viermal verheiratet, die Frauen blieben immer dreißig, zog er mal hier mal dort hin und kam nie wirklich irgendwo an, am wenigsten bei sich selbst und seinem tief im Innern schlummernden Judentum. Was für ein wunderbares, literarisch dichtes und wahrhaftiges Buch einer Tochter über ihren Vater. Und ganz nebenbei ein Buch, das deutsche und DDR-Geschichte erzählt, zum besseren Verständnis dieser so unendlich komplexen Materie. Silke Grundmann

SAŠA STANIŠIĆ. HERKUNFT
Luchterhand Verlag
Dieses Buch ist das schönste, bedeutendste, poetischste und bleibendste, was ich in diesem Frühjahr gelesen habe. Saša Stanišić, bezeichnet als der „Libero“ (Ijoma Mangold) der Deutschen Gegenwartsliteratur, schreibt über Herkunft (Jugoslawien), Vertreibung (Krieg), Heimat (Ist Sie eine Zeit oder ein Ort?), Ankommen (Heidelberg), Ausgrenzung (zu viele Häkchen im Namen), Aneignung (das erste Plusquamperfekt und die Sprache Hölderlins), Erinnerung (die eigene und die der Großmutter). Und das in einem so ausgewogen emotionalen wie reflektierten Stil, jegliches zarte Kitschaufkommen umschiffend und frei und lebendig erzählend, daß man sich nur freut, ja freut, wenn wieder einmal ein Satz so überraschend munter und doch tief durchdacht die wichtigsten Dinge des Lebens zusammenführt. Dieser Autor ist ein kluger und einfühlsamer Menschenfreund, ein präziser Beobachter und ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Wie schön, dass es solche Bücher gibt! Ob 14 oder 94, dieses Buch sollten alle lesen! Dieses Buch wird bleiben - und hoffentlich eines nicht so fernen Tages Kanon sein. Silke Grundmann
355 Seiten
22€