Buchempfehlungen Romane

RALF ROTHMANN. HOTEL DER SCHLAFLOSEN
€ 22,-

NICOLAS MATHIEU. ROSE ROYAL
€ 18,-

HELEN WOLFF. HINTERGRUND FÜR LIEBE
Anfang der Dreißigerjahre - in Deutschland sind Hitler und Hindenburg allgegenwärtig, als sich ein Paar aufmacht, den Sommer in Südfrankreich zu verbringen. Er, weltgewandt, selbstsicher, überlegen, Sie, seine 20 Jahre jüngere Geliebte, noch etwas unerfahren, verliebt und voller Vorfreude auf die gemeinsame Zeit. Doch schnell muss sie feststellen, dass ihrer beider Vorstellungen sehr voneinander abweichen, sie wird bevormundet, ihre Wünsche übergangen. Und so macht sie sich auf, ihren eigenen Weg zu finden und in einem kleinen, idyllischen Häuschen in Saint-Tropez ihre Träume zu verwirklichen...
Die Verfasserin dieses autobiographischen Romans, Helen Wolff, die als Verlegerin an der Seite ihres Ehemanns Kurt Wolff eine Legende wurde, hat ihre literarisches Werk zu Lebzeiten unter Verschluss gehalten. Ihre Großnichte Marion Detjen hat das mit dem Hinweis "At my death, burn or throw away unread" versehene Manuskript von "Hintergrund für Liebe" nun zur Veröffentlichung gebracht und mit einem umfangreichen, einordnenden Essay Versehen. Ein Glück für das Publikum, das nun in den Genuss dieser lebensfrohen, von Sinneseindrücken überbordenden Lektüre kommen, die ihre LeserInnen von Anfang an packt und in eine andere Zeit entführt. Ein wundervoller Roman, voller Intensität und Leichtigkeit! mk
216 Seiten
€ 20,-

Richard Ford. Irische Passagiere
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Verlag Hanser Berlin
„Das war typisch Maine, diese Aura von Ereignissen, die man gerade eben nicht mehr sehen konnte. Heimlich, aber eigentlich nicht geheim.“
Richard Ford lebt in Maine, und in seinem jüngsten, jetzt vierten Erzählungsband schärft er (wieder einmal) den Blick für die psychischen und moralischen Muster hinter den scheinbar glatt sich abspulenden Lebensläufen seiner konventionellen Figuren. Die meisten Mittelstandsamerikaner mit irischen Wurzeln, sind sie alles andere als in sich gekehrte, vom Leben gebrochene Charaktere. Sie geben durchaus gern etwas von sich preis, sind pragmatisch agierende Passagiere im eigenen Leben, die sich mit den anfallenden Gegebenheiten arrangieren wollen.
„Seiner Meinung nach passierten die meisten Ereignisse so, wie sie sollten.“
Eigentlich kann ihnen nicht viel passieren, in der breiten Spanne ihrer Lebensmitte. Profitable Berufe und abbezahltes Eigentum geben Sicherheit, „das Leben versuchte gut zu verlaufen“. Und dann passiert ihnen doch etwas: Ehescheidungen, Affären, überraschende Todesfälle, angeknackste Eltern-Kind-Beziehungen. Wie sie in die Wirren ihrer bürgerlichen Biografie geraten und sich dort einrichten, daraus leiten die Figuren nur jene Erkenntnisse ab, die ihre Gewissheiten nicht allzu sehr in Frage stellen. Schmerzen und Verluste stehen einer Lebensroutine gegenüber, an der sie oft mit einer coolen Unbedingtheit festhalten. Hauptsache weitermachen.
„Etwas geschieht und scheint das ganze Leben zu verändern, und dann raspelt sich alles zum erträglichen Maß zusammen.“
Richard Fords Kunst besteht gerade darin, seine Figuren in ihrem Weiter-so nicht nur mit kritischer Klarheit zu beleuchten. Über die Risse und Unwuchten in ihrer gut und situiert scheinenden Existenz schreibt er mit einer Zärtlichkeit und einem Blick des Mitgefühls, derer sie so sehr bedürfen. Als Leserin und Leser erfährt man nur ein Bruchstück ihrer Biografie, deren Kipppunkte und daraus resultierenden emotionalen Konsequenzen der Autor sprachlich meisterlich erfasst. Literatur, sagt Richard Ford, kann einen dazu bringen, sich mehr für das eigene Leben zu interessieren. Und es tröstlicher zu betrachten, möchte man nach diesem Buch hinzufügen.
be
288 Seiten
€ 22,-

Fabio Andina. Tage mit Felice
Aus dem Italienischen von Karin Diemerling
Rotpunkt Verlag
Es passiert nicht viel in diesem Buch. In einem Bergdorf im Tessin, in dem nur wenig Leute leben, in dem ein Bauer noch die letzten Kühe hat, in dem allerdings auch eine Bar gibt, lebt der neunzig Jahre alte Kauz Felice. Diesen begleitet eine Woche lang der moderne junge Ich-Erzähler in diesem kleine Roman und passt sich dessen Lebensgewohnheiten an. Beinahe vor Sonnenaufgang, meist vor dem ersten Hahnenschrei steht der Alte auf, geht meist barfuß in den nahegelegenen Kiefernwald, um in einer sogenannten Gumpe ein kaltes Bad zu nehmen, auch bei Regen, auch bei Schnee. Danach hackt er Holz, sammelt Früchte, sucht Pilze, besorgt Käse. Im Zuge dieser Entschleunigung erlebt der junge Mann, was wirkliche Dunkelheit ist, erlebt bisher ungehörte Stille, nimmt mit allen Sinnen die Natureindrücke wahr und erfährt manch anderes Geheimnis von dem wortkargen alten Mann – und die Lesenden mit ihm. Dieses handlungsarme Buch über ein in die Natur eingebettetes Leben ohne Ablenkung ist übrigens niemals langweilig, im Gegenteil, es ist eine beglückende Lektüre! kp
240 Seiten
€ 24,-

Anne Weber. Annette, ein Heldinnen-Epos
Leicht lesbar, auf traditionelle Reimform und strenges Versmaß verzichtend, weder ausschweifend noch überladen, hinreißend frei im Umgang mit Tradition und Regeln unterläuft Anne Weber all diese, unsere Vorstellungen und Bilder, wenn wir das Wort (Heldinnen)Epos lesen.
Sie hätte sich nicht vorstellen können aus der Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir einen traditionellen Roman zu machen, zu wenig Distanz und am Ende zu wenig Freiheiten, was das Schreiben betrifft, sagt sie in einem Interview.
So lesen wir eine hinreißende Erzählung über eine mutige, unerschrockene Frau, die mit nicht einmal achtzehn Jahren in den französischen Widerstand schlittert, mit dem Fahrrad kleine Päckchen von hier nach da transportiert und dann mit diesen unauffälligen Fahrten und den ersten „klandestinen“ Treffen plötzlich mittendrin steckt in einem Leben und Tun, dass nicht immer das Recht auf seiner Seite weiß - aber die Gerechtigkeit.
Der aktive Kampf in der Résistance gegen fremde Besatzer wird nach dem Krieg geadelt, was aber, wenn man gegen das eigene Volk als Besatzungsmacht in Algerien erneut in den Widerstand geht? Annette hat ihre festen Überzeugungen und ihr Tatendrang scheint schier ungebremst. Der Staat antwortet mit Gefängnis, Annette mit Flucht.
„Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos (Annette) am besten glücklich vorstellen."
Ein Buch, so klug wie herausfordernd, so frisch wie radikal - ein unvergessliches Leseabenteuer. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2020. sg

Giulia Caminito. Ein Tag wird kommen
Wagenbach Verlag
Caminito fand den Romanstoff in der Geschichte ihrer eigenen Familie, insbesondere ihr Urgroßvater stand dafür Modell, aber auch die noch heute im Kloster von Serra de Conti verehrte Äbtissin Zeinab Alif alias Maria Giuseppina Benvenuti. Geschickt verquickt die Autorin ihre Fiktion mit der Geschichte Italiens – mit der anarchistischen Bewegung, dem Ersten Weltkrieg, Mussolini und der Spanischen Grippe, über die sie schreibt: »Drei Tage genügten und Addio, am ersten Tag kam das Fieber, am zweiten barst einem die Lunge, und am dritten bekam man keine Luft mehr.« Ja, das kommt uns bekannt vor.
Eine tolle Empfehlung für alle Gerneleser von Francesca Melandri.nc

Denis Osokin. Goldammern
Adebar ist Fotograf im Papierkombinat von Neja im Verwaltungsbezirk Kostroma. Als sein Direktor Miron ihn bittet, ihm behilflich zu sein, nach Art der Merja seine vergangene Nacht verstorbene Frau Tanja zu verbrennen, ist er einverstanden. Gemeinsam ziehen sie Tanja aus und wieder an und flechten ihr, wie bei den Merja üblich, bunte Bänder ins Honig-und-Brot-Haar. Mit der »tief toten« Tanja auf der Rückbank, und zwei Goldammern, die Adebar zuvor auf dem Markt gekauft hatte, fahren sie los ans Ufer der Oka. Dort war Miron mit Tanja einst als junger Mann im Honigmond glücklich - und auch das gehört zur Tradition: viel »Rauch machen« und vom Honigglück erzählen.
So wie die Goldammern sind auch die anderen Geschichten von Denis Osokin - voller Fantasie und Poesie flattern sie traumgleich über der Wirklichkeit und werden von geografischen und ethnischen Koordinaten nur scheinbar am Boden gehalten und in der Realität verankert.
Goldammern, das vom ciconia Verlag in einer geschmackvollen, limitierten Ausgabe mit hübschen schwarz-weißen Abbildungen herausgebracht wurde, war schon als „Stille Seelen“ auf Festivalleinwänden erfolgreich. Nun hoffentlich als Buch. Es sei allen Bibliophilen, Neugierigen, Fans der russischen Avantgarde und Lesern der Lyrik ans Herz gelegt, und ebenso allen, die wissen möchten, was das weite Russland außer Putin noch zu bieten hat.

Anne Carson. Rot. Zwei Romane in Versen
S. Fischer Verlag
Ja, richtig gelesen. Und nein, Herkules stiehlt diesmal keine Rinderherde von der Insel Erytheia. Ganz im Gegenteil. Herkules ist ziemlich beschäftigt, die Welt mit seinem Charme um den Finger zu wickeln und dabei seiner Abenteuerlust nachzugehen.
Die kanadische Altphilologin und Dichterin Anne Carson taucht alte Mythen in ein neues Licht: Sie ermächtigt sich mythischer Figuren und erzählt eine andere Geschichte in Versform. Das geschieht in einer sprachlichen Kunstfertigkeit (kongenial übersetzt von Anja Utler), der man selten begegnet. Andauernd muss man pausieren, die letzten Verse repetierend, damit man auch nur nichts verpasst, denn die Assoziationsräume sind grenzenlos. Grenzen kommen sowieso nicht vor, nicht im Text und auch nicht in der Form. Ein absoluter Lesegenuss für Abenteuerlustige. hd

Isabelle Mayault. Eine lange mexikanische Nacht
Isabelle Mayault, die für ihre feministischen Reportagen bekannte französische Journalistin, erzählt in ihrem ersten Roman von der geheimnisvollen Reise dieses Koffers. Unbemerkt gelangt er in den politischen Wirren der Zeit von Europa nach Mexiko und wechselt dabei mehrmals den Besitzer, um dann Jahrzehnte später in New York wieder aufzutauchen. Mayault beschreibt mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit die sehr angespannte und komplexe gesellschaftliche und politische Lage, die in den 30er und 40er Jahren in Europa herrschte, und fängt damit dennoch gekonnt die Stimmung des Spanischen Bürgerkriegs ein. Ihre Geschichte und auch der Hauptcharakter Jamón sind geprägt von starken Frauen, die ihr eigenes Schicksal und damit auch das Schicksal der Welt in die Hand nehmen.
Mit ihrer weltoffenen und einfühlsamen Erzählweise hat Isabella Mayault es geschafft, für „Eine lange mexikanische Nacht“ mit dem Prix Ulysse du Premier Roman 2019 ausgezeichnet zu werden. hw

Christine Wunnicke. Die Dame mit der bemalten Hand

Thilo Krause. Elbwärts
Später, nach der Wiedervereinigung und im Erwachsenenalter, kehrt der Ich-Erzähler mit der neugegründeten Familie zurück in die Provinz und will die Wiederaufnahme der Freundschaft. Doch die Zeiten, sie sind andere.
Thilo Krause streift aktuelle gesellschaftlichen Fragen des oftmals als abgehängt erklärten Ostens nur implizit. Seine Hauptfigur ist ein moderner Sinnsucher in Gestalt des natureuphorischen Romantikers. Wunderbare Gebirgs- und Wanderbeschreibungen durchziehen das Buch, immer wieder durchbrochen von Erinnerungen an die Spätphase der DDR und das heutige Ankommen in der Provinz. Als sich Krauses Hauptfigur langsam in eine Sackgasse aus Erinnerungslasten und demVerlust seiner engsten Liebsten manöviert, rollt ein Hochwasser die Elbe hinab auf das Dorf zu.
Doch es scheint noch einen Ausweg zu geben...
„Elbwärts“ verhandelt große Themen wie Freundschaft, Zugehörigkeit und biographische Brüche in einer sehr unaufgeregten Weise und ist zudem in einer sehr feinen poetischen Sprache geschrieben. tw
€ 22,-

Sebastian Barry.Tausend Monde
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag
€ 24,-

Richard Middleton. Das Geisterschiff
Steidl Verlag
Es sind dreizehn kurze Erzählungen, die mitunter daherkommen wie Sagen, Märchen oder alte Gruselgeschichten. Es sind Erzählungen von Menschen, denen etwas Seltsames widerfährt, die an den Rändern des Lebens unterwegs sind. Dort, wo sich eine vermeintliche Realität mit anderen Dingen vermengt. Doch trotz aller Abwegigkeit und dramatischem Geschehen, blitzt hie und da auch ein Funken Humor auf.
Beim Lesen hört man fast die Stimme der alten Frau am Feuer, die einem gerade diese Geschichte erzählt, so dass man mit einem leichten Schaudern im Rücken ins Bett gehen muss.
Richard Middletons Leben war weder von großem Glück noch von großem Erfolg gekrönt. Erst nach seinem Tod wurde er bekannt. Das tat seinem Drang zu schreiben keinen Abbruch. Zum Glück für die heutigen Leser.
€ 18,-

Chris Kraus. Scherbentanz
Im Nachwort zur Neuausgabe seines Erstlings erzählt der Autor, wie er damals mit seinem Freund Volker Schlöndorff zu Günter Grass fuhr und diese Begegnung zum Anlass für das vorliegende Buch wurde. Hinreißend erzählt! kp
€ 22,-

Young-Ha Kim. Aufzeichnungen eines Serienmörders
Cass Verlag
Als er den Täter zu erkennen meint, von dem auch er sich durchschaut glaubt, setzt er es sich zur Aufgabe, ihn umzubringen, um seine Tochter zu retten, deren Leben er in Gefahr sieht.
Auf nur 152 Seiten folgt man den Anstrengungen des Mannes, in der Gegenwart verankert zu bleiben und liest mit Vergnügen seine Betrachtungen des Daseins, die interessante Parallelen zwischen Mord und Literatur ziehen. Sein letzter Auftrag wird zu einem Wettlauf mit der Zeit und sich selbst, da er zunehmend verunsichert ist, ob er sich auf seine Zuordnungen der Ereignisse noch verlassen kann. Das hält auch den Leser in Atem und führt zu unerwarteten Entwicklungen. In seiner Dichte und mit den philosophischen Einstreuungen des Erzählers sind diese Aufzeichnungen viel mehr als ein Krimi.
Zudem ist das Buch außergewöhnlich schön gestaltet und mit den Erinnerungen des Erzählers verblassen auch die Seitenzahlen im Verlauf des Buches. cm
€ 20,-

Guillermo Martinez. Der Fall Alice im Wunderland
Eichborn Verlag
„Der Fall Alice im Wunderland“ ist ein klassischer „Whodunit“ und besonders reizvoll, da er sich auf tatsächliche Forschungsansätze zu Lewis Carroll bezieht, über den man hier nebenbei eine Menge erfährt, und es mühelos schafft, das Oxford der 1990er Jahre, einer Zeit ohne Mobiltelefone und Internet, so nostalgisch erscheinen zu lassen als bewege man sich in der Zeit Lord Peter Wimseys.
Ein sehr britischer Krimi des argentinischen Mathematikers und Schriftstellers Guillermo Martinez, der selbst in Oxford studiert hat und in der Tradition Agatha Christies und Arthur Conan Doyles schreibt. cm
€ 16,-

BEN LERNER. DIE TOPEKA SCHULE
Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl
Zu Beginn des Romans sitzt Adam Gordon, ein redegewandter Highschool-Absolvent, eigentlich romantisch, mit seiner Freundin in einem Boot, hält ihr eine Rede und merkt nicht, wie sie ihm buchstäblich entgleitet. Sie verlässt das Boot und schwimmt an Land, was ihm erst auffällt, als er seinen Vortrag beendet hat und dessen Wirkung auf sie sehen möchte. Fast empört macht er sich auf die Suche nach ihr, zu guter Letzt auch noch im falschen Haus, ein Umstand, der ihm erschreckend spät auffällt, nämlich auf der Toilette im unvertraut wirkenden Badezimmer ihres vermeintlichen Zuhauses.
Dies ist eine gewitzte Einführung in eines der Hauptthemen dieses Romans – die Sprache. Hier als ungeeignetes Mittel männlicher Selbstprofilierung, in späteren Kapiteln als Mittel der Gewalt, der Verständigung und der politischen Rhetorik, die Inhalte nebensächlich werden lässt.
Ben Lerner, Sohn der bekannten feministischen Psychotherapeutin Harriet Lerner und vor allem als Lyriker bekannt, zeichnet in seinem dritten autofiktionalen Roman mit viel Selbstironie ein Bild der weißen US-amerikanischen Mittel- und Oberschicht in den 1990er Jahren, die er als Wegbereiter für die heutige politische Situation in den USA ausmacht. Zugleich erzählt er eine berührende Familiengeschichte, die Hoffnung auf positive Veränderungen erlaubt und bleibt sich dabei stets bewusst, dass er nur für einen bestimmten, privilegierten Teil der Gesellschaft sprechen kann, dem er selbst entstammt. Und das ist nur ein Aspekt dieses spannenden Buches, das man gerne gleich nochmal lesen würde und über das man sich unbedingt mit anderen austauschen möchte. Sehr lesenswert. Christine Mathioszek

ANDREAS SCHÄFER. DAS GARTENZIMMER

RONYA OTHMANN. DIE SOMMER
€ 22,-

Davide Longo. Die jungen Bestien
Rowohlt Verlag
Vincenzo Arcadipane, piemontesischer Kommissar mit Potenzproblemen und unkontrollierbaren Weinkrämpfen, wird zu einem Massengrab gerufen, das auf der Neubaustrecke des Schnellzugs entdeckt wurde, doch wird er des Falls schneller enthoben als er ein Lakritzbonbon lutschen kann. Kurzerhand werden die Skelette als Kriegsopfer deklariert und sämtliche Beweisstücke eingezogen. Arcadipane ist skeptisch und wendet sich an seinen alten Chef Bramard, der aus der italinischen Geschichte heraus eigene Ideen zu den Hintergründen hat.
Als junger Polizist wurde er in den bleiernen Jahren der 1970er und 1980er in die politische Abteilung berufen und muss sich nun erneut mit den Zusammenhängen und Auswirkungen dieser Zeit auseinandersetzen, die bis in die Gegenwart reichen. Gemeinsam mit einer kalt gestellten jungen Kollegin schaffen Arcadipane und Bramard es, etwas Licht in die Geschichte zu bringen. Den politischen Verwicklungen stehen die privaten Probleme der Männer gegenüber, die von den Frauenfiguren mit Witz, Muße und Skurrilität konfrontiert werden.
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen und experimentiert mit den Leseerwartungen, indem er beispielsweise mehrere Prologe einschiebt. Dennoch ist man sogleich im Geschehen, da Davide Longo so eindringlich erzählt, dass man direkt auf der ersten Seite mit dem Kommissar und seinem Team im Regen steht und einem die Nässe durch die Kleidung dringt.
Zudem ist der Roman eine interessante Annährung an die jüngere, noch immer nicht aufgeklärte, Geschichte Italiens.
410 Seiten
€ 22,-

DEEPA ANAPPARA. DIE DETEKTIVE VOM BHOOT-BASAR
Mit seiner schlauen Freundin Pari und seinem muslimischen Freund Faiz streift Jai auf der Suche nach Spuren durch den riesigen, verschlungenen Bhoot-Basar. Gemeinsam mit dem liebenswerten Suchtrupp spähen wir in die ärmlichen, beengten Hütten, träumen von der HiFi-Welt, die sich hinter der stinkenden Müllkippe, auf der man N°1 und N°2 verrichten kann, glitzernd in den Himmel reckt, fahren mit der Purple Line in die große Stadt und lernen allerlei indisches Leben kennen.
Gezuckerte Fenchelsamen, Mangopulver, mit Kardamom bestrichene Süßkartoffeln, Samosas und Biryani ziehen sich durch den Text, aber auch Elend, Schmutz, Korruption und dichter Smog. Bis zum Schluss scheint vieles möglich, bis, ja, bis Runu-Didi verschwindet, Jais Schwester.
Ein durch und durch sympathisches Buch, dessen Autorin und Übersetzern es auf wundervolle Weise gelingt, uns eine wirklich fremde Welt näher zu bringen. Die erzählerische und stimmungsvolle Leichtigkeit ist umso bemerkenswerter, wenn man weiß, dass der Roman einen schrecklich wahren Hintergrund hat.
Wir sagen okay-tata-bye* und wünschen dir viel Glück, kleiner Jai! NC
€ 24,-

Gabriele Tergit. Effingers
Schöffling Verlag
Am Beginn des großen Epochenromans „Effingers“ der Schriftstellerin und Gerichtsreporterin Gabriele Tergit steht ein Brief. Es ist das Jahr 1878 und der siebzehnjährige Paul Effinger schreibt an seine Eltern in der süddeutschen Provinz vom großen Aufschwung. Er berichtet von seinen Erlebnissen als Arbeiter in der rheinländischen Industrie. Später geht er nach Berlin, wird Fabrikant, produziert die Effinger-Motoren und heiratet in die großbürgerliche Familie Oppner ein. Es ist die neue Zeit und der „Fortschritt“ die Losung der Stunde!
Am Ende des Romans schreibt der nun einundachtzigjährige Paul Effinger an seine Enkel, wünscht ihnen dass sie alle Schrecken überstehen mögen. Es ist das Jahr 1942, er wartet auf seine Deportation. Seine Fabrik ist nun ein Rüstungskonzern der Nazis.
Zwischen diesen beiden Briefen entfalten sich siebzig Jahre deutscher Geschichte von der Kaiserzeit, über den ersten Weltkrieg und Weimarer Republik bis zum Aufstieg der NSDAP und dem 2. Weltkrieg. Die Mitglieder der jüdischen Familien Oppner, Goldschmidt und Effinger bilden das Figurenarsenal, ihre Verwobenheit die immerwährende Konstellation des Romans. In ihnen spiegeln sich die kulturellen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse wie auch die Denkgebäude der Zeit.
Paul Effinger ist ein rechtschaffener Kaufmann, den Idealen von Sparsamkeit und Ehrlichkeit verpflichtet. Sein Schwiegervater hatte noch in der Revolution 1848 gekämpft. Seine Tochter Lotte und seine Nichte Marianne hören Vorträge in den Frauenverbänden und sehen sich dem Sozialismus und später dem Zionismus nah.
Tergits Epos gleicht einer Drehbühne mit offenen erzählerischen Räumen, in denen jedes Schicksal seinen Platz bekommt. Tergit setzt harte Schnitte, komponiert schnelle Dialoge. Doch die Momente des Lebens – das sonntägliche Familienessen, das erste Verliebtsein, die pompöse Heirat, der Abschied von einem geliebten Menschen – werden bewahrt, vor allem in den konkreten Dingen: in Interieur, Kleidung, Accessoires, Architektur, Speisen, Kunst, dem Berliner Stadtbild.
Nichts ist hier bloße Kulisse. Es ist eine versunkene Welt, die vor dem lesenden Auge wieder auflebt und am Ende doch in Schutt und Asche liegt. Es ist ein großes Verdienst des Schöffling Verlages dieses Stück jüdisch-deutscher Geschichte – gespiegelt in eindrucksvoller Literatur – wieder erlesbar gemacht zu haben. tw
904 Seiten
€ 28,00
Ab September 2020 im Tachenbuch für € 14,00

Peter Schneider. Vivaldi und seine Töchter
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Schon als Schüler, selbst Geige spielend, war Peter Schneider fasziniert von Vivaldis Musik. „Vivaldi und seine Töchter“ ist sein Erinnerungsbuch für den Kameramann und Freund Michael Ballhaus, dessen Plan, Vivaldis Töne filmisch in Bilder zu bannen, ihm nicht mehr gelang. Vor allem aber ist es das spannende Porträt des Menschen Vivaldi, zerrissen zwischen seinen kirchlichen Pflichten als Priester und seiner musikalischen Berufung und Leidenschaft.
Vivaldis zentrale Wirkungsstätte in Venedig war das „Ospedale della Pietà“, ein auch in der damaligen Zeit besonderes Waisenhaus, wo er mit den musikalisch begabten Schülerinnen als Lehrer und Dirigent arbeitete. Viele der Kantaten, Sonaten und Konzerte komponierte er für „seine Töchter“ - nicht nur für die Geige, die er selbst virtuos spielte, sondern auch für damals wenig beachtete Instrumente, z.B. die Trompete. Unter seiner Leitung wurden Mädchenchor und -orchester berühmt, um sie zu hören, reisten aus ganz Europa Fürsten und Musikbegeisterte nach Venedig. Ohne sich in folkloristisch/voyeuristische Schilderungen zu verirren, gelingt es Peter Schneider, die Balance zu finden zwischen der biographischen Erzählung und der sorgfältig recherchierten Beschreibung des venezianischen Lebens zu Beginn des 18. Jh., den Machtansprüchen von Kirche und Serenissima und den harten Bedingungen musikalischen Schaffens der Zeit.Peter Schneider hat einen spannenden Roman geschrieben, im Zentrum immer Vivaldi und seine Musik, über die er mit großem musikalischem, anregendem Wissen schreibt, ein Vergnügen zu lesen und Lust machend, Vivaldis Musik wieder zu hören. rg

Marko Martin. Dissidentisches Denken

Jami Attenberg. Nicht mein Ding
€ 22,00

Yishai Sarid. Monster
176 Seiten
Ab April 2020 im Taschenbuch für € 12,00

Michael Lüders. Die Spur der Schakale
394 Seiten
€ 17,50

ALEXANDER OSANG. DIE LEBEN DER ELENA SILBER

VALERIA LUISELLI. ARCHIV DER VERLORENEN KINDER
Kunstmann Verlag
€ 25,00

SIBYLLE LEWITSCHAROFF. VON OBEN
Bei einer Autorin, bei der Spott und Kontroverse so oft nah beieinander liegen, ist dies Buch verblüffend diskret und zart. Ich wünsche ihm viele Leser. Klaus Palme
€ 24,00

JACKIE THOMAE. BRÜDER
Hanser Verlag
Mick und Gabriel kennen sich nicht und auf ersten Blick wirken sie grundverschieden. Aber sie sind Brüder, Halbbrüder. Ihr Vater, ein Austauschstudent aus Senegal, bleibt nicht. Er geht zurück, um sich erst vierzig Jahre später wieder zu melden.
Man liest begierig beider Geschichten, verfolgt ihren Weg bis zur Lebensmitte. Die Figuren gehen einem nah und werden zu Personen, die man näher kennenlernen möchte. Das ist nur eine der großen Stärken dieses Buches. Denn Thomae lässt auch Berlin wiederauferstehen, als es noch eine riesige Versuchsanordnung war, von vielen Glücksrittern bevölkert wurde und niemand etwas mit den Begriff Gentrifizierung anfangen konnte. Mick nämlich, ist einer dieser Glücksritter, zur richtigen Zeit (90er Jahre) am richtigen Ort (Berlin natürlich) lässt er sich durch sein Leben treiben, ohne Ziel aber mit viel Spaß dabei.
Gabriel dagegen arbeitet, sehr viel, irgendwann zu viel. Er macht eine beeindruckende Karriere in London und versucht sein Leben planvoll zu gestalten. Klar, dass das irgendwann schief geht, oder doch nicht?
Leichtfüßig und elegant geschrieben, dabei keine Klischees bedienend, ist hier eine Philanthropin am Werk, die ihr Handwerk versteht. Denn am Ende des Buches angelangt, zwickt es einem im Gemüt, da man Mick und Gabriel nun verlassen muss und man doch hofft, einen von ihnen an der nächsten Ecke zu treffen. hd
429 Seiten
€23,00

STIG SÆTERBAKKEN. DURCH DIE NACHT
Dumont Verlag
Dieses Buch bleibt lange im Gedächtnis. Es ist eine Reise in die dunkelsten Gefilde der Seele.
Ein Mann, angetrieben vom Selbstmord seines Sohnes, driftet aus seinem saturiertem Dasein in eine existentielle Krise.
Die literarische Qualität des Textes ist hoch, Sæterbakkens Können offensichtlich. Der Text entfaltet eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Man begleitet den Protagonisten auf dieser Reise und wird dabei konfrontiert mit seinem Versagen, seiner Ehrlichkeit und seiner Selbstzerfleischung. Daneben erfährt man auch von den guten Zeiten und glücklichen Tagen, die mit einer solchen Zartheit und Grazilität erzählt werden, dass es einem fast das Herz zerreißt.
Es bleibt zu hoffen, dass auch die anderen Werke Sæterbakkens in Deutsche übertragen werden. hd
288 Seiten
€ 22,00

RAYMOND QUENEAU. ZAZIE IN DER METRO
Aus dem Französischen von Frank Heibert
Suhrkamp Verlag
Queneau erzählt in „Zazie in der Metro“ die Geschichte einer rotzfrechen Göre aus der französischen Provinz, die von ihrer Mutter bei ihrem Onkel Gabriel in Paris abgeliefert wird, um sich ein Wochenende mit ihrem Liebhaber zu gönnen. Zazies einziger Wunsch ist es, mit der Metro zu fahren, die ausgerechnet an diesem Wochenende bestreikt wird. Aus Langeweile büxt sie aus und erkundet die Stadt auf eigene Faust. Dabei hat sie kuriose Begegnungen mit zahlreichen dubiosen und schrägen Charakteren. Wiedervereint mit ihrem Onkel machen er und sein Freund Charles eine Stadttour mit ihr, auf der Gabriel von einer begeisterten Touristengruppe entführt wird. Nun machen sich Zazie, Charles und zwei neue, aufgelesene Bekannte, auf die Suche nach ihm. Nach einem dramatischen Showdown am Ende des Buches und eines langen Tages verpasst Zazie die lang ersehnte Fahrt mit der Metro, da sie sie verschläft.
60 Jahre nach dem Erscheinen dieser nicht stringent erzählten, atemlosen Geschichte, die einem sprachlichen Feuerwerk gleicht, hat Frank Heibert eine neue Übersetzung vorgelegt. Einerseits geht er freier mit dem originalen Text um, indem er beispielsweise Namen verändert, andererseits zeigt er sich weniger zurückhaltend bei der Übersetzung von Kraftausdrücken und Umgangssprache als die erste deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1960. Auch in der Übersetzung Eugen Helmés von 1960 bleibt der Roman noch heute modern, - Zazie ist und bleibt ein frappierend respektloses und wortgewandtes Mädchen, einige Charaktere wechseln ohne nähere Erklärung Persönlichkeit, Namen oder Geschlecht, - doch die Übersetzung Heiberts ist temporeicher, und der spürbare Spaß des Übersetzers an der Sprache an sich sowie an der surrealen Handlung überträgt sich auf den Leser und die Leserin.
Der Neuübersetzung des Romans sind zudem zwei Kapitel aus Queneaus Manuskripten hinzugefügt, in denen Zazie endlich zu ihrer Metrofahrt kommt. Diese Kapitel sind eine unterhaltsame Ergänzung und literaturwissenschaftlich interessant, da sie Einblick in die verworfenen Ideen Queneaus erlauben. Gleichzeitig zeigen sie auch, warum er sich gegen die Aufnahme der Kapitel entschieden haben mag, nicht nur, weil sie dem Titel den ironischen Witz genommen hätten.
Man kann es mit dem sprechenden Papagei Laverdure halten, der immer wieder kommentiert: „Du quatscht und quatscht, sonst hast du nichts zu bieten“. Das aber mit Bravour und unbändigem Spaß an der Sprache.
Christine Mathioszek
239 Seiten
€ 22,-

BARBARA HONIGMANN. GEORG
Wir können der Geschichte nicht entfliehen, erst recht nicht der eigenen. Barbara Honigmann hat es in all ihren schmalen, aber sehr intensiven Büchern verstanden, sich ihrer selbst über das Ergründen der Eltern zu vergewissern. Das jetzt erschienene Buch über ihren Vater Georg ist eine nachgetragene Liebeserklärung, die begreiflich macht, wie sehr wir mit der Geschichte unserer Eltern verklammert sind, wie nah wir ihnen kommen können, wenn wir auch ein Stück weit zulassen, sie niemals ganz ergründen zu können. Georg Honigmanns Biografie ist für einen Teil der Deutschen des 20. Jahrhunderts geradezu exemplarisch: assimilierter Jude, Freidenker, Verfolgter des Naziregimes, Emigrant, Kommunist, Rückkehrer, nirgendwo richtig zu Hause, für die DDR, in die er aus Überzeugung zog, zu elegant, zu weltläufig, zu frei- und feingeistig, zu wenig tatkräftig. Gleichwohl ordnete er sich der Partei unter und litt und war auch privat oft sehr unglücklich. Viermal verheiratet, die Frauen blieben immer dreißig, zog er mal hier mal dort hin und kam nie wirklich irgendwo an, am wenigsten bei sich selbst und seinem tief im Innern schlummernden Judentum. Was für ein wunderbares, literarisch dichtes und wahrhaftiges Buch einer Tochter über ihren Vater. Und ganz nebenbei ein Buch, das deutsche und DDR-Geschichte erzählt, zum besseren Verständnis dieser so unendlich komplexen Materie. Silke Grundmann

SAŠA STANIŠIĆ. HERKUNFT
Luchterhand Verlag
Dieses Buch ist das schönste, bedeutendste, poetischste und bleibendste, was ich in diesem Frühjahr gelesen habe. Saša Stanišić, bezeichnet als der „Libero“ (Ijoma Mangold) der Deutschen Gegenwartsliteratur, schreibt über Herkunft (Jugoslawien), Vertreibung (Krieg), Heimat (Ist Sie eine Zeit oder ein Ort?), Ankommen (Heidelberg), Ausgrenzung (zu viele Häkchen im Namen), Aneignung (das erste Plusquamperfekt und die Sprache Hölderlins), Erinnerung (die eigene und die der Großmutter). Und das in einem so ausgewogen emotionalen wie reflektierten Stil, jegliches zarte Kitschaufkommen umschiffend und frei und lebendig erzählend, daß man sich nur freut, ja freut, wenn wieder einmal ein Satz so überraschend munter und doch tief durchdacht die wichtigsten Dinge des Lebens zusammenführt. Dieser Autor ist ein kluger und einfühlsamer Menschenfreund, ein präziser Beobachter und ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Wie schön, dass es solche Bücher gibt! Ob 14 oder 94, dieses Buch sollten alle lesen! Dieses Buch wird bleiben - und hoffentlich eines nicht so fernen Tages Kanon sein. Silke Grundmann
355 Seiten
22€