Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

Knaus
Richard, emeritierter Professor für Altphilologie, hat „jetzt einfach nur Zeit“: Richard muss jetzt nicht mehr frühmorgens pünktlich aufstehen. „Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar... Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit. Auf einmal.“
Richard schaut alles in allem auf eine erfüllte Lebenszeit zurück. Gut, es gab Brüche, wie in jedem Leben, seine Frau ist früh verstorben, seine Geliebte hat ihn betrogen. „Nun aber quält ihn nicht die Zeit, die mit einer unnützen Liebe ausgefüllt ist, sondern die Zeit an sich.“
Zeit haben auch andere, unfreiwillig viel Zeit: die Flüchtlinge vor dem Roten Rathaus in Berlin. Und außer dieser Zeit haben sie nichts mehr. „We become visible“ steht auf ihren handgeschriebenen Schildern und so kommt es, dass Richard dem Aufruf in der Zeitung „Der Berliner Senat lädt Anwohner und Flüchtlinge zur Beratung der Lage in die Aula der besetzten Kreuzberger Schule ein“ folgt. Richard macht die „Sache mit den Flüchtlingen“ zu einer Art persönlichem Projekt. Und zu einem richtigen Projekt gehört eine solide Kenntnis der Dinge, um die es geht, und eine präzise und gute Vorbereitung.
Es ist ihm wichtig, die richtigen Fragen zu stellen: „Und die richtigen Fragen sind nicht unbedingt die Fragen, die man ausspricht...Um den Übergang von einem ausgefüllten und überschaubaren Alltag in den nach allen Seiten offenen, gleichsam zügigen Alltag eines Flüchtlingslebens zu erkunden, muss er wissen, was am Anfang war, was in der Mitte – und was jetzt ist.“
„Wer sind diese Menschen überhaupt? Warum können Sie nicht dort sein, wo sie eigentlich sein wollen – in ihrer Heimat? Und wer sind wir, dass wir sagen dürfen, es sind zu viele?“
Jenny Erpenbecks Romane haben immer mit den Fragen über Herkunft, Entwurzelung, Identität und Flucht zu tun. In diesem Buch nun widmet sie sich dem wohl wichtigsten politischen Thema unserer jetzigen und zukünftigen Zeit. Und wie sie das macht verdient allergrößte Bewunderung und Respekt. Nichts entgleitet ihr in diesem Buch: Es gibt keine unreflektierten Sätze, keine Klischees, keine Verallgemeinerungen, keinen moralischen Zeigefinger, keine Scheinheiligkeit, keine einfachen Wahrheiten und keine billigen Lösungen. Was es allerdings gibt, und dafür verehre ich diese Autorin, ist ein so überwältigend kluger, auch aufklärerischer und überzeugender Versuch, den Horizont unseres In-der-Welt-Seins zu öffnen, ohne immer schon Antworten auf Fragen parat zu haben, die wir uns nicht zu stellen genötigt sehen, aus welchen Gründen auch immer. Richard jedenfalls stellt die richtigen Fragen. Sie verändern sein Leben und Denken und Handeln. Ohne Enttäuschung geht das nicht – aber ohne Engagement eben auch nicht. Nein, es geht hier nicht darum, die ganze Welt zu retten. Eher schon um die einfachste und schwierigste aller Fragen: Wer will ich in diesem Leben sein?
Dies ist ein Roman, den ich jedem dringend zu lesen empfehle. Sie kommen da anders heraus, als Sie hinein gegangen sind. Und was will man mehr von einem Roman! Ein echtes Bildungserlebnis! sg
351 Seiten
19,99€
Herbst 2015