MICHAEL KRÜGER. VERABREDUNG MIT DICHTERN. ERINNERUNGEN UND BEGEGNUNGEN

Suhrkamp Verlag
Nach diesen rund 450 Seiten bin ich gewiss: Gäbe es für die Weltliteratur eine UNO, Krüger wäre per Akklamation der Generalsekretär. Gäbe es für die deutsche Literatur eine Regierung, Krüger wäre Außenminister. Gäbe es die „Zeitreise“, Krüger meditierte regelmäßig mit Moses Mendelssohn über Bäume. Und was die Doppeldeutigkeit deutscher Attribute betrifft, so trifft „überragend“ auf ihn zu, denn er ist wirklich „groß“ geraten! Dieser Band ist voller Überraschungen! Eine Namensliste fehlt – sie anzufertigen, hätte Suhrkamp neue Kräfte einstellen müssen. Aber wer z.B. im Buchhandel oder dessen Nähe zu tun hat, müsste das namenreichste Buch des Jahres gelesen haben! Das „Strandbad“ ist wieder da (26-137), in den 5plus Buchhandlungen, bei denen es erschienen war, also auch bei uns, war es schnell vergriffen. Nun aber sind diese „Szenen einer Nachkriegskindheit zwischen Nikolassee, Schlachtensee und Wannsee“ wieder zu lesen – eine große Freude! Es folgen Porträts der Freundschaften mit Reinard Lettau, Walter Höllerer und Klaus Wagenbach – die westberlinische Literaturszene entsteht für alle, die in den sechziger Jahren hier studierten und der Generation von Michael Krüger nahestehen (wie der Autor) und einen Draht zur Akademie der Künste hatten, lebhaft und vielstimmig wieder vor Augen. Krüger war kein Student, ihm wurde sein ganzes Berufsleben bis zum Leiter des Hanser-Velages zu einem lebenslangen Studium. Er „studierte“ an schönen Orten, wobei die Villa Massimo in Rom gewiss zu den traumhaftesten gehörte. Aber auch in den Erinnerungen an „meine schwedischen Freunde“, an „meine israelischen Dichter“, an „meine (Schreib-)Tische in New York“, an „meine polnischen Freunde“ spielen die Orte der Freunde eine wichtige Rolle. Von vielen Porträts angeregt, geht man sofort zu den Buchregalen, um wieder selbst zu lesen. Das gelingt bei vielen, bei einigen aber, erwähnen wir David Rokeah, Lars Gustafsson und Claudio Magris, erwacht erneut völlig neue Leselust. „Lesen und genesen“ - wenn es mit einem „und“ zu schaffen wäre ...
Jüngst erst las ich mit angehaltenem Atem und bangem Umblättern „Im Wald, im Holzhaus“ (2021), Krügers „Überlebensbuch“ unter dem Diktat einer lebensbedrohenden Erkrankung. Da hatte er die Sorge um sich selbst noch nicht verloren. Doch in dem in vielen Jahren gedrehten Dokumentarfilm „Verabredung mit einem Dichter“ (2022) gibt es es einen nachdenklichen und von Selbstüberforderung Gezeichneten wahrzunehmen, aus dessen Mund die Freud-Paraphrase sehr glaubwürdig klingt: „Man ist nicht Herr im eigenen Haus. Man war es nie und ist es im Alter immer weniger.“ In den „Verabredungen“ erzählt Michael Krüger auf eine pfingstliche Weise: Er spricht mit den vielen Stimmen, die seinen Verlag erfüllen, das sind viele Sprachen (!) und die verstehen sich alle miteinander. Das biblische Pfingsten ist ein Sprach- und Verstehenswunder, bei Krüger sind es „Verabredungen mit pfingstlicher Energie“. Wie kommen sonst Primo Levi, Tomas Tranströmer, Dan Pagis und Harry Mulisch über die Café-Stunde, wenn nicht mit Krügers pfingstlicher Verstehungskraft. Es ist zu bedauern, dass die Praktische Theologie Krügers Relevanz für ihr Fach noch nicht entdeckt hat, anzusprechen wäre er ganz gewiss!
In den Nachbemerkungen zu den „Verabredungen“ entwirft er knapp seine zukünftigen Studien, ein weiteres Buch „als Dank für die vielen Freundschaften, die ich mit den Dichtern und ihren Büchern schließen durfte. Es bleibt also noch etwas zu tun.“ Auf unserer Seite wartet die Zuversicht, ist dieser Band doch erst zu seinem 80. Geburtstag erschienen ... Helmut Ruppel
447 Seiten
30 €