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ESTHER KINSKY. HAIN. GELÄNDEROMAN

Suhrkamp, 287 Seiten, €[D]24,- | €[A]24,70

Man kann sich dem Sog dieses Buches nicht entziehen, obwohl (und das sei hier nicht als Warnung, sondern nur als erläuternder Hinweis zu verstehen) es nicht wirklich eine Handlung gibt auf diesen fast 300 Seiten. Aber sind nicht gerade diese Bücher oft die herausragenden? Die Jury des Leipziger Buchpreises teilt erfreulicherweise diese Einschätzung.

Von drei Italienreisen berichtet die Ich-Erzählerin, Reisen zur Unzeit (Januar) in wenig arkadische Gegenden Italiens: eine Kleinstadt nordöstlich von Rom, die Lagunenlandschaft der Poebene und buchmittig angeordnet die Fahrten mit dem etruskerverliebten Vater in den Siebzigern, Erinnerungen an die Kindheit.

Die Ich-Erzählerin beschreibt, was sie sieht, erinnert, träumt. Es geht um Verlust, intensivste Trauer, Abwesenheitsnotizen, um eine Wiedergewinnung an Boden – oder sagen wir besser Augenhaftung. Präzision, Sinnlichkeit und Distanz prägen diesen Text. Und eben deshalb weisen viele Passagen über das Gesagte hinaus. „Hat es Sinn, auf eine Baumgruppe zu zeigen und zu fragen: 'Verstehst Du, was diese Baumgruppe sagt?' Im allgemeinen nicht; aber könnte man nicht mit der Anordnung von Bäumen einen Sinn ausdrücken, könnte das nicht eine Geheimsprache sein?“( Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, dem Roman vorangestellt). Esther Kinsky schickt eine Erzählerin aus, die sich Kraft ihrer unendlich differenzierten, stilsicheren Wortwahl einer Welt vergewissert, der man nicht verloren geht, weil man sie in Literatur verwandeln kann: Das ist das Tröstliche an diesem Buch. Die Lektüre ist eine Schule des Sehens. Mit bewundernswerter Könnerschaft schafft Esther Kinsky aus Worten Bilder äußerer und auch (sparsam) innerer Landschaften. Das Besondere an diesem Buch ist, dass es trotz einer so reichen und differenzierten Sprache ganz ohne Überhöhung und ohne jegliche Manierismen auskommt. Es ist sachlich, distanziert und trotzdem (oder gerade deshalb) anrührend und kostbar und weit entfernt von jedem Italienklischee. „Das Gelände lag roh im Tageslicht und trostlos bei Nacht, vielleicht sogar untröstlich über seine völlige Untauglichkeit – weder zur Landschaft noch zum Obdach wollte es sich eignen.“ Formal und stilistisch ein Meisterwerk von großer poetischer Kraft.

Silke Grundmann-Schleicher

 

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