UWE TIMM. ALLE MEINE GEISTER

Kiepenheuer & Witsch Verlag
Und es gelingt ihm, nicht einmal kalauernd Kürschners Literaturkalender zu erwähnen, so ernsthaft-freundlich erinnert er an die Jahre 1955 – 1961, die prägenden Jahre seines Lebens als Kürschner-Lehrling und Leser der Werke Benns, Dostojewskis, Camus', Kafkas, Salingers, Thomas Manns, William Faulkners, Henry Millers (oijoijoi, aber St. Pauli war nicht seine Meile ...). Nun ist Uwe Timm 19 Tage älter als der Autor dieses Briefes – es liegt nahe, hinzuhören, wie er die Jugendjahre erinnert. Ich hatte keine Rechtschreibschwäche, aber auch keine Kürschnerlehre (blätterte schon früh im Kürschner), las diese Bücher wie er. Aber Timm erzählt so freundschaftlich, fast geschwisterlich, so im sympathischen Einklang mit dem fünfzehn- und siebzehnjährigen, dass einem aufgeht: Es muss zwischen dem unvermeidlichen Narzissmus und dem sich aufdrängenden ironischen Zynismus im Blick auf diese Jahre noch einen Spalt geben für gelassenes Einvernehmen. Timm könnte mit diesem Kürschnerlehrling eine herzliche Freundschaft schließen, unbekümmert und von neugieriger Sympathie getragen, keine Kameraderie, aber ruhiger Austausch und Anteilnahme. Altmodisch gesprochen: Es ist ein reifes und ruhiges Buch und tut so gut zu lesen, auch für jeden Jahrgang nach 1940! Die komplexen Nöte der westdeutschen Republik, das vage Wahrnehmen von etwas, das DDR heißt, die Blüte der Pelzmode und ihr Verdämmern, zwei schwedische Mädchen aus Lund, „mit weißen Schirmmützen und sehr blond“ - Momentaufnahmen, Partikel, Gedächtnisblitze - das Buch ist keine Biographie, eher ein Blättern in Tagebüchern, Briefen, Alben, Erinnerungen und Stimmungen. Verstöße gegen andere Menschen? Nein, nur Zorn gegen die universelle Verheerung in Humanität und Kultur durch die Nazis, die als gute Deutsche weiterlebten. Das Schöne an diesem Buch ist die anhaltende Vertrautheit mit der eigenen Lebensgeschichte, Uwe Timm hat nach über 80 Jahren Uwe Timm zum Freund, samt allem, was Freundschaft einschließt - und aushält. Das Buch – ein Geschenk für alle, die schon beginnen, darüber nachzudenken, wie alles anfing, wohin es ging, heute steht oder geht. Und nicht redselig. Danke! Das alles mit dem Nebengewinn, viel zu lernen über das dahingegangene Kürschnerhandwerk. Helmut Ruppel
282 Seiten
25 €