Albrecht Schöne. Erinnerungen

Wallstein Verlag
Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne hat, 95jährig, seine Erinnerungen veröffentlicht. Das Buch hat er ursprünglich für seine Enkel geschrieben, und er setzt das Wort Zueignung an den Anfang seiner Reminiszenzen. Es ist ein mit Bedacht gewähltes Wort, denn es ist die Widmung, die Goethe seinem Faust vorangestellt hat („Naht ihr euch wieder, schwankende Gestalten…“). Dem Werk Johann Wolfgang Goethes galt Schönes Arbeit lebenslang.
Der Autor lässt uns zunächst an der Suche nach seinen Ahnen teilhaben, zu denen Lucas Cranach wie auch Goethe selbst gehört, zu dem er uns dabei auf verschlungenen Wegen mitnimmt. Schöne ist Pädagoge, als Professor im Hörsaal wie auch als Lehrer der Nachgeborenen: Ausführlich zitiert er regimekritische Schriften seines Vaters aus dem Jahr 1943, die dieser als Studienrat in den Fächern Deutsch und Geschichte verfasste, aber außerhalb des Familienkreises nicht bekannt wurden. Er kommentiert sie für seine jungen Leser. Die eigentliche Vita des siebzehnjährigen Albrecht beginnt im gleichen Jahr, wenn er sich freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht meldet, ausgestattet mit dem Reifevermerk („Notabitur“). Er gelangt in ein brandenburgisches Panzerregiment. Zweimal überlebt er mit knapper Not, wenn der Panzer abgeschossen wird, in dem er sitzt. Als die Wehrmacht vor der Roten Armee zurückweichen muss, gelingt es ihm im letzten Moment, sowjetischen Soldaten zu entkommen, und er beginnt die Elbe in Richtung Westen zu durchschwimmen. Die Rufe „Come on, come on!“ amerikanischer Soldaten, die ihn aus ihrem Jeep beobachten, verleihen ihm die nötige Kraft.
Schöne hat sich in seinem langen Forscherleben immer wieder von Texten der Bibel und der Sprache Martin Luthers anregen lassen. So zitiert er aus dem 1. Brief des Paulus an die Korinther, („weinen, als weineten sie nicht…“), der ihn zu Untersuchungen des Gebrauchs des Konjunktivs bei Goethe und Robert Musil anregt. Die Berichte über seine wissenschaftliche Arbeit, aber auch von Vorgängen, die sich während der Studentenbewegung ab 1968 an der Universität Göttingen abspielen, sind instruktiv und lehrreich. Schmerzlich berühren ihn Äußerungen auch eigener Schüler, die er hier mit vollem Namen nennt.
Unter den Vortragsreisen, die er ins Ausland unternimmt, ist ihm die an die Hebräische Universität in Jerusalem als besonders eindrücklich haften geblieben. Wie er am German Department dort einmal von der Aufführung einer Brecht/Weillschen Oper mit Schülern und Studenten im Jahr 1930 in Berlin erzählt, meldet sich ein alter Herr und sagt: „Ich war dabei.“
„Vita brevis, ars longa.“ Der Aphorismus der Philosophen Hippokrates und Seneca kommt einem in den Sinn, wenn man dieses wunderbare Buch gelesen hat. Das Leben, auch das eines 95jährigen, ist ein kurzes, und es gelingt einem Gelehrten nicht, die Länge und Breite seines Faches auszuloten. Wilfried Opitz
334 Seiten
€ 28